„Die ‚Normalisierung des Antisemitismus‘ ist attraktiv“

Die Sonderbeauftragte der US-amerikanischen Regierung zur Beobachtung und Bekämpfung von Antisemitismus, Botschafterin Deborah Lipstadt, sprach mit dem WINA-Magazin über die Proteste an den Universitäten und den merkbaren Anstieg von Antisemitismus in den USA seit dem 7. Oktober und dem Krieg in Gaza.

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© Reinhard Engel

DEBORAH ESTHER LIPSTADT wurde 1947 in Manhattan, New York, geboren. Ihre jüdische Familie habe ihr ein „starkes Bewusstsein dafür mitgegeben, dass man zu Ungerechtigkeiten nicht schweigen könne“, sagt die Historikerin und Holocaust-Forscherin, die neben zahlreichen Lehraufträgen in Israel und der USA seit 2014 den Lehrstuhl als Dorot Professor of Modern Jewish History and Holocaust Studies an der Emory University in Atlanta inne hat. Im Wissenschaftsbetrieb fiel die Forscherin zunächst durch ihre Untersuchungen darüber auf, wie die amerikanische Medien im Zweiten Weltkrieg das Wissen über die Vernichtung des europäischen Judentums ignorierten (Beyond Belief, 1986). Durch den Prozess gegen den britischen Historiker und Holocaust-Leugner David Irving erlangte sie internationale Bekanntheit. Er verklagte Lipstadt 1996 vor einem Londoner Gericht wegen Geschäftsschädigung, Beleidgung und übler Nachrede, weil sie ihn als Bewunderer Hitlers und Sprachrohr der Holocaust-Leugner bezeichnet hatte. Lipstadt gewann den Prozess, die Geschichte wurde 2016 mit Rachel Weisz in der Hauptrolle verfilmt. Am 30. Juli 2021 wurde Prof. Lipstadt durch US-Präsidenten Joe Biden zur Antisemitismus- Beauftragten des US-Außenministeriums bestellt. Den Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 bezeichnete sie als „den tödlichsten Angriff auf Juden seit dem Holocaust“. An keinem Tag seit der Staatsgründung Israels wurden so viele Israelis getötet wie am Tag des Angriffs am 7. Oktober. Es gebe „keine Rechtfertigung“ für den „abscheulichen, barbarischen Terrorismus gegen israelische Zivilisten“, und niemand habe nun das Recht, Israel vorzuschreiben, wie es sich zu verteidigen und künftige Angriffe zu verhindern habe.


WINA: Sie haben soeben an der zum dritten Mal stattfindenden European Conference on Antisemitism, initiiert vom Bundeskanzleramt, teilgenommen und die Hauptrede gehalten. Zur Konferenz waren Expertinnen und Experten eingeladen, um gemeinsam Maßnahmen gegen den Antisemitismus zu diskutieren. Unter dem Arbeitstitel Antisemitism as the ‚new normal‘? wurde darüber gesprochen, wie man mit dem steigenden Hass an den Universitäten und in den Social Media effektiv umgehen kann. Was sind Ihre praktischen Schlüsse aus diesem Treffen?
Deborah Lipstadt: Das war ein sehr gutes Forum. Ich habe schon an zahlreichen Konferenzen teilgenommen, die waren interessant und nett. Diese Diskussionsplattformen in Wien brachten ein weitgefächertes Spektrum an Meinungen und Ideen. Und das Wichtigste: Alle waren sich darin einig, dass Führungspersönlichkeiten unbedingt sofort reagieren, ihre Stimme erheben – und ihre Aussagen vor allem eindeutig sein müssen. Nicht das „aber, aber, aber“ nachschieben. Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus darf nicht missbraucht werden, um politische Gegner zu bekämpfen – dazu ist dieser zu wichtig.

Im Plenum haben Sie den Antisemitismus als mehrschichtig bezeichnet, diesen in drei Gruppen unterteilt: den extremistischen weißen Rassisten, den altmodischen Dinner- Party-Antisemiten und den ahnungslosen Antisemiten. Ist das schon alles?
I Nein, denn ich bin auch für Chancengleichheit beim Hass, egal, woher er kommt, ob von links, rechts, den Islamisten, Christen oder Juden. Denn der Antisemitismus ist erstens eine Bedrohung für die Juden und zweitens für die Demokratie. Denn jeder, der an Verschwörungstheorien festhält und sagt, „die Juden regieren die Medien, die Banken etc.“, glaubt nicht daran, dass die Demokratie das kontrolliert. Die Opfer dagegen haben die Sorge, ob die Regierungen sie überhaupt schützen wollen und können. Das heißt, dass beide das Vertrauen in die Demokratie verloren haben. Es funktioniert wie ein Hufeisen: Die Extremisten auf der rechten und linken Seite sind sich im Hass einig, obwohl sie es unterschiedlich definieren. Die extreme Rechte sieht den Juden als Eindringling in die christliche Gesellschaft und die extreme Linke als „weiß und Unterdrücker“ – aber es ist der gleiche Hass.

„Der Antisemitismus ist mehrschichtig, daher muss er
auch
auf vielen Ebenen bekämpft werden.“

Sind die Proteste und Unruhen an den US-Universitäten von außen gesteuert, von sogenannten professionellen Anstiftern?
I Wir wissen es nicht genau, aber manche Universitäten meldeten, dass einige der Festgenommenen nicht vom Campus stammten. Es waren ältere Leute darunter, die wahrscheinlich bei der Organisation geholfen haben, aber es musste auch Studenten geben, die mitmachen wollten. Viele von ihnen können Israel nicht einmal auf der Landkarte finden, manche können es schon.

Es ist nichts Falsches daran, wenn man Israel glaubhaft kritisiert, aber man muss wissen, wovon man spricht. Von Israel als Apartheid-Staat zu sprechen, ist Unsinn. Israelische Araber können wählen, ihre Abgeordneten sitzen in der Knesset (dem israelischen Parlament) und sind in den höchsten Gerichten vertreten. Werden israelische Araber auf sozialer und anderen Ebenen diskriminiert? Ja, sie erhalten oft nicht ihren gerechten Anteil. Aber ist das Apartheid? Nein. Israel hat in Gaza Fehler gemacht, es gibt dort großes Leid und katastrophale Zustände. Ist das Völkermord? Nein!

Merken Sie persönlich schon den angestiegenen Judenhass? Ist dieser schon allgemein zu spüren?
I Ich nicht, denn ich gehe ins State Department (Außenministerium). Aber ja, ich beobachte das schon, ich merke die Veränderung. Klar, die Menschen sind Zeugen von Dingen, und sie fühlen sich freier zu sagen, was sie denken – und das ist oft antisemitisch. Die „Normalisierung des Antisemitismus“ ist attraktiv und erscheint daher berechtigt.

„Österreich entwickelte sich zu einem Bollwerk
gegen den Antisemitismus, und darin liegt
eine gewisse beruhigende historische Ironie.“

Welche gesellschaftlichen Schichten in den USA zeichnen sich da besonders aus?
I Das sind sowohl jene mit niedrigerem wie auch mit ökonomisch hohem Status, denn Sie wissen ja, die wirtschaftliche Stellung macht sie nicht immun gegen Antisemitismus. Ob sie ethische Grundsätze haben, entscheidet weder das Geld noch ob sie zwei Doktorate haben.

Welche politischen Veränderungen im Weißen Haus erwarten Sie nach den nächsten Wahlen?
I Die Prophezeiung ist Kinder und Narren vorbehalten: Ich bin kein Kind und hoffe auch, keine Närrin zu sein. Hätten Sie mir diese Frage vor einem Jahr gestellt, hätte ich auch nicht vorhersagen können, was jetzt passiert.

Wie würden Sie die derzeitige Stimmung zwischen der USRegierung und Israel beschreiben?
I Die jetzige US-Administration ist ein starker Unterstützer Israels. Ich glaube, es gibt ein wenig Spannung bezüglich der Art, wie Israel derzeit den Krieg in Gaza führt.

© Reinhard Engel

Also gibt es Spielraum für Verbesserungen?
I Sie wissen ja, dass gute Freunde immer offen miteinander diskutieren.

Verfolgen Sie den besorgniserregenden Rechtsruck in Europas politischer Landschaft?
I Ja, natürlich. Zum Beispiel die Entwicklung in Italien, insbesondere die Regierungschefin Meloni: Das ist schon ziemlich auffällig, einige dieser Parteien waren ja antisemitisch, sicherlich ihr Vater, der z.B. behauptete, „der Holocaust war nur ein historisches Detail“. Meloni ist jetzt noch zurückhaltend, aber der Rechtsruck ist in ganz Europa nicht zu übersehen.

Sie fahren von Wien nach Budapest zu Gesprächen mit offiziellen Vertretern und der jüdischen Gemeinde. Premier Viktor Orbán spielt mit den jüdischen Menschen in Ungarn ein zynisches Spiel: Er unterstützt jene Gruppierungen, die ihn nicht kritisieren, und bestraft die anderen. Außerdem ist er proisraelisch wie viele Rechte in Europa.
I Ich war schon mehrmals in Ungarn, fahre jetzt hin, um mir vieles anzuhören und daraus zu lernen. Aber insgesamt ist es sicher eine besorgniserregende Situation. Ich werde selbstverständlich die jüdischen Gemeinden besuchen, jene, die ihn mag, aber auch jene, die ihn nicht so schätzt.

Sie nahmen hier an Gedenkstunden im österreichischen Parlament und auch in Mauthausen teil. Was ist Ihr Eindruck?
I Ich bin sehr beeindruckt von Ministerin Karoline Edtstadler und dem Parlamentspräsidenten Wolfgang Sobotka. Die Veranstaltung im Parlament war sehr berührend und kraftvoll. Österreich entwickelte sich zu einem Bollwerk gegen den Antisemitismus, und darin liegt eine gewisse beruhigende historische Ironie: Österreich als erster Verbündeter Nazideutschlands hat nach 1945 versucht zu sagen, dass es das erste besetzte Land gewesen sei. Und jetzt erkennt Österreich nicht nur seine Geschichte an, sondern nimmt eine unheimlich starke Haltung ein, wenn es um das Anprangern von Antisemitismus geht.

Ist das alles nicht ein wenig spät?
I Wissen Sie, was der amerikanische Dichter Mark Twain über die Juden gesagt hat? „Der Ägypter, der Babylonier und der Perser stiegen auf, erfüllten den Planeten mit Lärm und Glanz, verblassten und sind dahingegangen; es folgten der Grieche und der Römer, sie erregten ungeheures Aufsehen, und nun sind sie fort.“ Die Juden sind noch immer da, daher muss man optimistisch sein.

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