332 Tage der Ungewissheit

332 Tage der Ungewissheit hatte die Familie von Hersh Goldberg-Polin, seit seiner Entführung vom Nova-Festival. Unzählige Familien, Verwandte und Freunde bangen immer noch um die Gefangenen.

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Erster September war Schulanfang. Nicht überall im Land konnten sich die Eltern sicher sein, dass ihre Kinder sicher sein würden in ihren Klassen. An manchen Orten im Norden, wo der Raketenalarm nie aufgehört hat, hieß es, dass von Tag zu Tag morgens darüber entschieden werden soll, ob der Unterricht stattfinden könne. Das ist der Alltag in manchen Teilen Israels. Immer noch.

Man ist inzwischen an einiges gewöhnt. Aber dann begann das neue Schuljahr beim Aufwachen mit Nachrichten, die tief bis in das kollektive Mark drangen. Sechs Geiseln wurden geborgen. Von der Hamas ermordet. Mit Kopfschüssen aus nächster Nähe. Ein bisschen später wurden ihre Namen bekannt gegeben: Eden Yerushalmi, Hersh Goldberg-Polin, Alex Lobanov, Carmel Gat, Almog Sarusi, Ori Danino. Jeder für sich eine Welt, mit Angehörigen, die seit mehr als elf Monaten – unfähig zu atmen – ausgeharrt und unermüdlich gekämpft hatten.

Auf den Beerdigungen baten die Familien ihre Lieben immer wieder um Entschuldigung, dass es ihnen nicht gelungen war, sie zu retten. Von seinen Schuldgefühlen, vielleicht doch nicht alles Mögliche getan zu haben, erzählt Gili Roman. Seine Frau Yarden hatte es im November zu ihm und ihrer kleinen Tochter nach Hause geschafft, seine Schwägerin Carmel Gat war nicht mehr freigekommen.

Ihr Gesicht kennt man, auch ihre Geschichte. Dass sie bei ihren Eltern am 7. Oktober zu Besuch gewesen war im Kibbuz Beeri. Über sie wird erzählt, dass sie anderen Geiseln mit Mediation und Yoga geholfen hatte, die Zeit in den Tunneln zu überstehen. Jetzt ist sie tot. Es falle so unendlich schwer zu akzeptieren, sagt Gili Roman, dass die Bilder, die im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder von Carmel gezeigt worden waren, im Urlaub in Indien oder lachend auf dem Sofa mit der kleinen Nichte, jetzt keine Aufnahmen der Hoffnung mehr seien, sondern Fotos, die an sie in der Vergangenheit erinnerten.

Alex Lobanovs Frau war schwanger gewesen, als ihr Mann entführt worden war. Inzwischen ist das Baby dreieinhalb Monate alt. Es wird seinen Vater nur von Bildern kennen. Von Hersh Goldberg-Polin gibt es noch eine Videoaufnahme der Hamas. Dort sieht man ihn, blass, schmal und einarmig, weil sie ihm den anderen bei der Entführung abgeschossen hatten. Für seine Eltern, die es mit ihrem Kampf für den einzigen Sohn bis auf das Cover des Time-Magazins und zur Versammlung der Demokraten in Washington geschafft hatten, war es ein wichtiges Lebenszeichen.

Beim Niederschreiben dieser Zeilen sind noch 101 Geiseln dort. Wie viele von ihnen noch am Leben sind – darüber gibt es bloß Vermutungen. Sicher ist, dass die Zeit drängt.

Seit Monaten gibt es Verhandlungen, die zu einer Freilassung der Geiseln und zu einem Waffenstillstand in Gaza führen sollen. Es lässt sich schwer einschätzen, ob die Ermordung der sechs – kurz bevor die israelische Armee sie in einem Tunnel gefunden hat – jetzt ein Abkommen mit der Hamas eher möglich machen oder es vielleicht ganz begraben wird. Die Geiseln sind Sinwars „Faustpfand“. Je weniger er hat, desto höher der Preis. Dass die Geiseln beim Anrücken der Soldaten getötet wurden, bedeutet aber auch, dass die Chancen einer militärischen Rettungsoperation geschwunden sind.

Die Israelis wissen, dass Sinwar ein furchtbarer Massenmörder ist, auf den sie keinerlei Einfluss haben. Deshalb gehen sie auf ihren Straßen demonstrieren, um auf den eigenen Regierungschef einzuwirken, ihn zu mehr Flexibilität bei den Verhandlungen zu bringen.

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