Jüdische Zeitgeschichte: Wie nach 1945 alles wieder begann

Eine zweibändige Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde nach 1945 beschreibt akribisch, wie sich unter den österreichischen Juden ein neues Selbstbewusstsein entwickelte und der Fortbestand der Gemeinde mit einer soliden eigenen Infrastruktur abgesichert wurde.

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Raimund Fastenbauer: Ein Neuanfang V&R unipress 2024, 1.007 S., 150 €

Ein Neuanfang – Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Wien von 1945 bis 2012 ist Teil eines umfassenden fünfbändigen wissenschaftlichen Projekts: In zwei illustrierten Bänden ist es Raimund Fastenbauer, Historiker und langjähriger Generalsekretär der IKG, gelungen, nicht nur ausführlich, sondern auch höchst spannend die Entwicklung dieser Gemeinde zu beschreiben. Damit schließt er an die Historische Kommission der Zwischenkriegszeit an, der allerdings nach der Shoah keine ähnliche konzentrierte Recherchearbeit gefolgt war. Nun hat sich die Judaica Forschung Gemeinnützige GmbH auf Initiative des ehemaligen IKG-Präsidenten Ariel Muzicant die Aufgabe gestellt, diese Jahrzehnte mit all ihren Erfahrungen und Einschnitten seriös und umfangreich aufzuarbeiten. Da Fastenbauer laut Muzicant „selbst in viele der Ereignisse involviert war“, wurde der Kulturwissenschaftler und Judaist an der Universität Wien Univ.Prof. Dr. Klaus Davidowicz mit der wissenschaftlichen Leitung beauftragt.

Das Buch beginnt mit der grausamen Stunde Null, der Wiedererrichtung der Kultusgemeinde im tristen Wien von 1945. Nur wenige Jüdinnen und Juden hatten hier überlebt, viele Osteuropäer waren in DP-Camps in ganz Österreich gestrandet, Emigration und Weiterreise war die Devise, denn man sah kaum eine Zukunft für jüdisches Leben in Österreich. Zuerst gründete sich eine Einheitsliste unter kommunistischer Führung, aber langfristige Ziele wollten sich die Funktionäre noch nicht setzen. In den folgenden Jahrzehnten – nun unter sozialistischer Leitung – organisierte man sich so gut es ging, lebte aber von der Hand in den Mund und verkaufte großzügig restituierte Grundstücke, vor allem an die Gemeinde Wien.

[…] kann jetzt die junge IKG-Generation viel Wissenswertes
über die eigene Gemeinde erfahren.

Fastenbauer dokumentiert sorgfältig genau die internen Diskussionen der IKG jener Zeit, aber auch die wenig erfreulichen Reibungen mit dem oft weiterhin antisemitischen Umfeld – von der „Judenserie“ der Kronenzeitung über den Fall Borodajkewycz bis zur unsäglichen Konfrontation Bruno Kreiskys mit Simon Wiesenthal und zum palästinensischen Terror in Wien.

Danach änderte sich aber das Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde, nicht zuletzt mit einem Führungswechsel hin zu einer neuen, jüngeren Generation. Zu dieser gehörte auch Ariel Muzicant, aber er agierte nicht allein. Die zwei Bände Fastenbauers sind dem mittlerweile verstorbenen Dr. Alexander Friedmann gewidmet. Muzicant: „Er war jener ‚Motor‘, der ab 1975 die Erneuerung der IKG und mich wesentlich beeinflusst und geprägt hat.“

Man trat nun gegenüber der österreichischen Politik bestimmter auf, der internationale Rückenwind half mit, es kam schließlich zum Washingtoner Abkommen über die Restitutionsfrage, die lange verschleppt worden war. Und die IKG agierte jetzt auch selbst. Statt weiterhin Grundstücke und Immobilien abzuverkaufen, modernisierte und investierte man, baute für die zahlenmäßig kleine Gemeinde, Schritt für Schritt eine beachtliche Infrastruktur auf: Diese reicht von mehreren jüdischen Schulen bis zum beliebten, großen Altersheim, inkludiert mit Esra einen umfassenden psychosozialen Dienst. Es entstehen mehrere jüdische Sportvereine, die Förderung unterschiedlicher religiöser Einrichtungen sowie koschere Geschäfte und Restaurants. Das jüdische Kulturleben konnte erfolgreich wiederbelebt werden.

Auch über die demografische Entwicklung wird kundig berichtet, denn diese wird die Zukunft der jüdischen Gemeinde mitbestimmen. Unmittelbar nach dem Krieg – und in Folge der kommunistischen Machtübernahmen in Osteuropa – bestand die Wiener Jüdische Gemeinde neben den wenigen überlebenden Einheimischen vor allem aus Ungarn und Polen. Ab den 1970er-Jahren begann die Zuwanderung aus den unterschiedlichsten Regionen der Sowjetunion, das betraf etwa Bucharen oder Georgier. Sie integrierten sich schnell und erfolgreich im Handel, in der Medizin, im Gastro- und Immobilienbereich und gründeten innerhalb der IKG-Einheitsgemeinde ihre jeweils eigenen Bethäuser und Vereine. Ihr Engagement als gewählte IKG-Funktionäre hat bereits viel Gewicht.

Die beiden Bände stellen nicht nur ein wichtiges und informatives historisches Zeitdokument dar: Die Geschichte der IKG nach 1945 ist gut lesbar, unterhält auch zeitweise, vor allem wenn es um weniger schöne Intrigen oder unfeine Machtkämpfe geht. Dankenswerterweise kann jetzt die junge IKG-Generation viel Wissenswertes über die eigene Gemeinde erfahren – und die ältere Generation kann ihre Erinnerungen auffrischen.

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