Israel nach dem 7. Oktober: Kultur im Kriegsalltag

Zahlreiche Künstler und Musikerinnen versuchen sich selbst und ihr Publikum abzulenken, ein paar Stunden Normalität zu schenken – während die Gedanken aller ganz woanders sind.

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© LEAH BOROVOI

Eine Psychotherapeutin aus Jerusalem, die wie viele in ihrem Fach nach dem 7. Oktober kostenlos professionelle Hilfe geleistet hat, meint lakonisch: „Ja, die Menschen konsumieren wieder Kultur – aber viel weniger!“ Wegen des Geldes? „Nein, wegen der Stimmung …“ Wen wundert das: Die Gedanken sind bei den eigenen Verwandten und Freunden, die kämpfen oder trauern; bei den Geiseln und deren Familien – und die alltäglichen Sorgen sind im Zuge der Kriegswirtschaft nicht weniger geworden.

Die Sprache hatte es nach dem Massaker der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober in Israel vielen verschlagen, das bis dahin unvorstellbare Trauma verblieb unter der Haut. Aber die Singstimme? „Zehn Tage lang brachte ich keinen einzigen Ton heraus“, erzählt die israelische Sopranistin Hila Fahima. „Erst am 17. Oktober habe ich mich aufgerafft und auf Instagram ein hebräisches Lied, Yeled (Junge), gesungen, denn dieses wollte ich jedem Kind in Israel vorsingen.“

Hila Fahima, 1987 in Karmi’el, nahe Akko, geboren, studierte am Konservatorium ihrer Geburtsstadt und schloss ihre Studien an der Jerusalem Academy for Music and Dance ab. Bereits 2010 debütierte sie an der Israeli Opera in Tel Aviv. Anschließend gewann sie einen Wettbewerb, der ihr den Weg in das Ensemble der Deutschen Oper Berlin ebnete. Dort sang die 23-jährige Koloratursopranistin unter anderem die „Königin der Nacht“ in Mozarts Zauberflöte und die „Nannetta“ in Verdis Falstaff. Ab der Spielzeit 2013–2014 und bis 2021 gehörte Fahima dem Ensemble der Wiener Staatsoper an. Bereits im Dezember 2014 zählte sie – als Page – zur Premierenbesetzung von Verdis Rigoletto, im Juni übernahm sie in derselben Inszenierung die Titelpartie der „Gilda“, die sie noch mehrmals sang, u.a. im Sommer 2021 bei den Bregenzer Festspielen.

In dieser anspruchsvollen und populären Rolle wird das israelische Publikum Hila Fahima von 7. bis 20. Juli 2024 insgesamt zehn Mal auch an der Oper Tel Aviv erleben können. Für eine andere Spitzenpartie der Opernliteratur, die „Lucia“ in Donizettis Lucia di Lammermoor, sollten die Proben in Tel Aviv im Oktober 2023 beginnen. „Den Vertrag für diese Lucia-Serie vom 12. bis 20. November hatte ich schon ein Jahr davor unterschrieben“, erzählt die vielbeschäftige Künstlerin. „Nach dem 7. Oktober rechnete ich nicht mehr mit der Realisierung dieses Projektes. Ich dachte mir, wer kommt nach diesem ungeheuerlichen Schock und im Krieg in die Oper?“

Doch mit den Proben wurde noch im Dezember begonnen, die Aufführungen fanden dann von 5. bis 13. Jänner 2024 statt. „Es waren die wichtigsten Vorstellungen meines Lebens: Die Menschen waren emotional, sie sehnten sich nach Musik als Balsam für ihre verletzten Seelen. Wir spürten diese großen Gefühle, so eine Wärme und große Umarmung aus dem Publikum.“

Die Vorstellungen waren komplett ausverkauft, es wurde noch eine zusätzliche eingeschoben. Alle ausländischen Sänger und Künstlerinnen haben ihre Engagements in Israel wahrgenommen. „Aus Angst hat niemand abgesagt, das war sehr erfreulich. Das Opernmanagement hat sich rührend um uns gekümmert, wir wohnten alle in unmittelbarer Nähe und verbrachten viel Zeit miteinander in einer sehr familiären und ruhigen Atmosphäre“, berichtet Fahima.

Unmittelbar nach dem Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 wurden Theater und größere Versammlungsstätten im ganzen Land geschlossen, weil sie – wie alle Gebäude und Bewohner – wochenlang Ziel von Raketenangriffen waren. Im Oktober und November waren die Straßen so verwaist wie zu Zeiten der Covid-Lockdowns. Zahlreiche Theaterkünstler kümmerten sich, wie viele andere im Land auch, um die Geflüchteten aus den Grenzgebieten und die Überlebenden aus den zerstörten Dörfern und Kibbuzim. „Sobald wir an der Oper singen konnten, wurden Kibbuzniks mit Bussen zu den Aufführungen gebracht. Sie waren davor noch nie in einer Oper, und es war so schön zu sehen, wie sie diese Zerstreuung genossen“, erinnert sich Hila Fahima, die die fordernde Partie der „Lucia“ Anfang März auch an der Deutschen Oper Berlin sang.

Die Menschen waren emotional,
sie sehnten sich nach Musik als Balsam für ihre verletzten Seelen.

Hila Fahima

Yifat Weisskopf, eine israelische Mezzosopranistin, die viele Rollen an der Oper Tel Aviv verkörpert hatte, arbeitete zuletzt hauptsächlich als Kulturmanagerin in den Städten Kfar Saba und Netanja.  Es war schwer, irgendetwas für die Theater zu organisieren, denn niemand weiß, wie lang der Krieg dauert, es ist alles instabil. Zahlreiche Künstler hatten und haben noch keine Arbeit.“ Daher organisierte Weisskopf unter anderem kleine, spontane Konzerte in Hotels, in denen Flüchtlinge aus den zerstörten Kibbuzim teilweise noch immer untergebracht sind. Auch für die Kinder sorgten diverse Aktivitäten für etwas Ablenkung. Gleichzeitig baute die Sängerin einen Markt auf, auf dem Menschen, die weder ein Zuhause noch Arbeit hatten, Produkte aus den landwirtschaftlichen Gebieten im Süden verkaufen konnten.

Israels Kultur spiegelt die Vielschichtigkeit seiner Gesellschaft wider. Die verschiedenen ethnischen Gruppen haben mit ihrem eigenen kulturellen Hintergrund entsprechend Kunst, Literatur, Film, Theater und Musik des Landes geprägt. In Israel gibt es rund 120 Museen, was in Relation zur Bevölkerung die höchste Museenrate weltweit ergibt. Die Theaterszene in Israel ist ebenfalls sehr aktiv: Es gibt etwa zehn professionelle Repertoiretheater und eine Vielzahl an regionalen und Amateurtheaterensembles, die im ganzen Land auftreten. Neben dem Nationaltheater Habimah ist seit 1970 in Tel Aviv auch das beliebte Stadttheater Cameri beheimatet. Auch Haifa, Be’er Scheva und Jerusalem haben eigene Stadttheater. 1991 wurde in Tel Aviv das Theater Gesher (Brücke) gegründet, an dem bis heute überwiegend russische Einwanderer auf der Bühne stehen. In dem Land mit knapp neun Millionen Einwohnern existieren 14 Tanzkompanien, neun Filmfestivals über das ganze Jahr verteilt und nicht weniger als sieben Unterrichtsstätten zur Ausbildung von Schauspiel, Film und Fernsehen.

Der israelische Dramaturg und Professor für Theater Gad Kaynar Kissinger sprach mit der deutschen Plattform Nachtkritik über Israel im Ausnahmezustand: „Meine Enkeltochter ist nur knapp dem Tod entronnen: Sie war im Rahmen ihres kürzlich beendeten Militärdienstes als Wachposten an der Grenze zu Gaza stationiert. Beim Angriff der Hamas am 7. Oktober wurde ihre ganze Einheit, nur junge Frauen, getötet oder entführt. Inzwischen sitzt sie als Reservistin wieder am selben Ort.“ Zur Situation des Theaters meinte Kissinger, dass vor der Katastrophe die Spielpläne in Israel eskapistisch waren: „Die politische Realität wurde verdrängt. Wenn man sich das Repertoire der Theater anschaut, findet man Komödien, Musicals, Familienstücke, aber sehr selten etwas, das sich mit den existenziellen Problemen Israels befasst.“ Man widmete sich höchstens den Konflikten zwischen Religiösen und Säkularen oder der Stellung der Frau in der orthodoxen Gemeinschaft. „Ich gehöre zur Jury des AkkoFestivals für freies Theater, das immer ein Seismograf der Stimmung in Israel war. Dieses Jahr, wie auch schon zuvor, konnten wir auf keine Aufführung zurückgreifen, die sich mit den Minoritäten im Land, geschweige denn mit den aktuellen politischen Problem beschäftigen.“ Hila Fahima wird nach einem Gastspiel im April und Mai an der Oper Köln als „Oscar“ in Verdis Maskenball in der Regie von Jan Philipp Gloger, dem zukünftigen Wiener Volkstheater-Chef, bereits im Juni in Tel Aviv mit den Proben für die Rigoletto-Serie beginnen. Die Opernsängerin, Mutter eines kleinen Jungen, hat eine besondere Vorliebe für die italienischen BelcantoOpern, singt aber auch Mozart und Richard Strauss.

Am 3. November 2023 sang sie auf einer Gedenkveranstaltung für die von der Hamas entführten israelischen Geiseln am Wiener Heldenplatz vor mehr als 20.000 Menschen die israelische Nationalhymne HaTikwa. Es war eine ganz besondere Weltpremiere, denn diese Hymne erklang zum ersten Mal an jenem Ort, an dem Adolf Hitler 1938 Österreichs „Heimkehr in das Deutsche Reich“ proklamierte. Fahima hatte Personenschutz und trug während ihres Auftritts eine schusssichere Weste. Nicht im kriegsgeplagten Israel, sondern wegen der Bedrohung jüdischer Menschen im Herzen Europas. „Egal, ob in Israel, Europa oder weltweit“, sagt sie, „wir müssen stark sein und weitermachen, aber wie? Die Musik ist meine Hoffnung. Sie ist meine Stärke.“

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