Bei manchen Schilderungen schnürte es so manchem und mancher im Publikum die Kehle zu. Da erzählte Ofrit Shapira-Berman von einem jungen Soldaten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Beim ersten Zusammentreffen kam er mit seinen Eltern, diese blass und offensichtlich geschockt, er selbst mit vielen Verbänden, bei manchen sickerte immer noch Blut durch. Der junge Mann war in einer Militärbasis stationiert gewesen, die von rund 100 Terroristen attackiert wurde. Die israelischen Soldaten befanden sich über acht Stunden in einem Raum ohne Fenster, und alle 20 Minuten hätten die Hamas-Männer Granaten hineingeworfen. Der Soldat sah Freunde sterben, am Ende verließ niemand unverletzt die Basis. Was ihn allerdings bis heute vor allem plage, sei eine Mischung aus Hilflosigkeit, Scham und Schuld. „Uns wurde beigebracht, Helden zu sein, aber ich stand einfach an der Wand und wartete auf unsere Rettung“, habe er zu ihr gesagt.

Shapira-Berman erzählte von einer 19-jährigen Frau aus einem der Kibbuzim im Süden, deren Eltern und Geschwister von der Hamas ermordet wurden. Sie musste entscheiden, wo das Begräbnis stattfinden sollte – im Kibbuz, der aber evakuiert worden war, oder in Tel Aviv. Bis heute komme die Frau zu ihr in Therapie und stelle sich die Frage, ob sie eines Tages wieder glücklich sein werde. „Sie ist wie ein Baby, das am 7. Oktober zur Welt kam und all diese Gefühle wieder erlernen muss.“

Shapira-Berman erzählte von kleinen Kindern, denen sie kurz nach dem 7. Oktober sagen musste, dass ihr Vater gestorben ist. Sie erzählte von Geiseln, die inzwischen frei gekommen sind, um dann festzustellen, dass Familienangehörige ermordet wurden. Sie erzählte von Überlebenden des Nova-Festivals, die nun von Schuld geplagt würden. Einige hätten sich aus dieser Schuld heraus inzwischen das Leben genommen, auch wenn die Regierung diesen Umstand konstant herunterspiele.

Und sie erzählte von den Kindern der israelisch-österreichischen Geisel Tal Shoham, der zur Zeit ihres Vortrags immer noch in Gaza festgehalten wurde. Die beiden Kinder, damals drei und fünf Jahre alt, wurden mit ihrer Mutter ebenfalls nach Gaza entführt und kamen im Zug des Geisel-Deals Ende 2023 frei. Ihnen gehe es nun zunehmend psychisch wieder schlechter. Sie würden Fragen stellen, die Kinder im Kindergartenalter normalerweise nicht beschäftigen, wie: Sind wir jetzt sicher? Werden wir sterben? Wird Papi sterben? Warum sind die Väter so vieler anderer Kinder hier, aber nicht unserer?

 

Genau das sei eine der Lehren aus der Shoah –
sich
umeinander zu kümmern. Genau deshalb sei

es auch so vielen Menschen in Israel derzeit
so ein großes Anliegen, sich
gut um die Opfer
des 7. Oktober zu kümmern.

 

Trauma bedeute Wunde. Wunden könnten heilen, so Shapira-Berman. Der junge Soldat sei in eine posttraumatische Belastungsstörung gerutscht, das müsse aber nicht immer passieren. Menschen seien in der Lage, furchtbare Dinge zu erleben und sich davon wieder zu erholen. Dazu seien aber Faktoren wie Vertrauen, Gerechtigkeit und Logik nötig. Und: Das Trauma müsse abgeschlossen sein. Das sei in Israel derzeit aber nicht der Fall. Das Land sei im Krieg, vor allem aber seien immer noch rund 100 Personen in Gaza in Geiselhaft. Das setze vor allem den Angehörigen zu.

Ofrit Shapira-Berman betreut auch einige dieser Angehörigen. In diesen Therapien gehe es vor allem darum, die Menschen zu stärken, sie zu unterstützen, damit sie kämpfen können. Zuletzt gehe es einigen dieser Angehörigen aber ebenfalls zunehmend schlechter. Die größte Angst sei, dass die Entführten weder lebendig noch tot nach Israel zurückkommen, sondern einfach verschwinden. Jeder habe die Geschichte des Piloten Ron Arad im Kopf, dessen Flugzeug 1986 im Libanon abstürzte und von dem es danach noch Lebenszeichen gegeben habe. Bis heute wisse niemand über seinen weiteren Verbleib. Vor dieser Ungewissheit würden sich viele der Angehörigen fürchten.

Sie pochen auf das, was Israel ausmache: dass man niemanden zurücklasse, dass man sich um alle kümmere. Es sei auch kein Zufall, dass nun wieder viel vom Holocaust die Rede sei. Genau das sei eine der Lehren aus der Shoah – sich umeinander zu kümmern. Genau deshalb sei es auch so vielen Menschen in Israel derzeit so ein großes Anliegen, sich gut um die Opfer des 7. Oktober zu kümmern.

Shapira-Berman ist auch Leiterin der Abteilung für psychische Gesundheit der Organisation First Line Med (FLM). Schon in den zehn Monaten vor dem 7. Oktober haben sie und andere Ärzte und Therapeuten dieser Organisation sich um Verletzte bei den teils gewalttätigen Protesten gegen die Regierung und die von ihr geplante Justizreform angenommen. Diese Vernetzung half auch am 7. Oktober. Schon in der Früh konnten die Gesundheitsexperten zusammengerufen werden und dort unterstützen, wo Hilfe benötigt wurde. Das Ausmaß des Horrors habe man aber erst am Abend dieses Tages erfasst. Wichtig ist ihr herauszustreichen, dass das Misstrauen von großen Teilen der Bevölkerung gegenüber der Regierung schon vor dem 7. Oktober da gewesen sei – nun aber ein veritabler Spalt durch die Gesellschaft gehe. Dazu hätten auch entbehrliche Wortmeldungen wie die eines Regierungsmitglieds aus der Orthodoxie beigetragen, der in Richtung der Teilnehmer am Nova-Festival gemeint hatte, das passiere, wenn man am Schabbat Party mache.

Sie sei nun in ihrer FLM-Funktion im Dauereinsatz und beklagte, dass die Therapieangebote der Regierung viel zu wenige Stunden umfassen. Viele der Opfer würden jahrelange Therapien benötigen. Sie selbst, aber auch Kollegen und Kolleginnen behandeln daher nun Betroffene ohne Honorar. „Am 6. Oktober hatten wir alle keine Stunden frei. Seit 8. Oktober haben wir für jeden Zeit.“ Das zehre aber natürlich. Sie arbeite nun von sieben Uhr bis 23 Uhr, nicht immer durchgehend, aber das sei der Rahmen. Geändert hätten sich auch die Rahmenbedingungen und Settings von Psychotherapie. Vor dem 7. Oktober hätte sie keine Patienten umarmt. Vor dem 7. Oktober habe sie immer versucht, das Private völlig aus der Therapiesituation herauszuhalten. Diese sozusagen weiße Wand sei aber nun nicht mehr da. Wenn man während eines Alarms gemeinsam mit Patienten zu einem Schutzraum laufe und dann gemeinsam mit dem Patienten oder der Patientin und der eigenen Familie im Schutzraum sitze, wie es bei vielen Therapeuten der Fall sei, ändere das etwas. „Es ist ein anhaltendes Trauma.“ Sie hoffe jedenfalls, dass es gelinge, alle Geiseln zu befreien. Das sei nötig, damit auch die Gesellschaft heile.

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