„Dieses Haus war ein Lichtblick für so viele
Menschen. Es ist herzzerreißend.“
Orr Ronen

Wie beginne ich einen persönlichen Text über die Veränderungen, die seit dem Krieg in Israel stattgefunden haben? „Es war einmal“? – zu abgedroschen. „Der Norden brennt, das Land blutet, was bleibt, sind die Erinnerungen“? – zu theatralisch. Vielleicht fehlen noch die Worte und auch die Kapazität, alles zu erfassen. Zu viel ist geschehen, vieles hat sich verändert, doch nicht alles ist auf den ersten Blick sichtbar. Nur die vielen israelischen Fahnen an Fenstern, Gebäuden und Gartentoren und die Fotos der Entführten erinnern einen auf Schritt und Tritt daran, was geschehen ist und noch immer geschieht. Und auch die gelben Schleifen an den Autos und die gelben leeren Stühle, Symbole für die Forderung nach die Freilassung der Geiseln. Der Platz der Geiseln in Tel Aviv, einstmals der ruhige, ästhetische Museumsplatz, ist ein Ort voller Schmerz und Aufruhr. Aber bis auf die wöchentlichen immer aufwühlender werdenden Demonstrationen geht das Leben im Zentrum des Landes beinahe wie gewohnt weiter, nur die Strände sind eher leer, weil die Touristen fehlen. In vielen Hotels wohnen noch immer evakuierte Familien, Flüchtlinge im eigenen Land. Und über allem Leben der immer noch pulsierenden Stadt spüre ich diese unsichtbare dunkle Wolke.

Doch wie sieht es weiter im Norden aus? Wie geht es den Menschen dort, die nicht evakuiert wurden und unter täglichem Raketenbeschuss leben? Immer wieder erinnere ich mich an einen meiner letzten Geburtstage, den ich noch vollen Herzens feiern konnte. Meine Familie überraschte mich mit einem Wochenende im Norden, den ich so liebe – vielleicht, weil mich die grüne Landschaft mit der verschwommenen Silhouette des Golan-Gebirges im Hintergrund ein bisschen an Österreich erinnert. Ich hatte keine Ahnung, wohin es ging, bis wir schließlich in Abirim ankamen, einem zirka vier Kilometer von der Grenze zum Libanon gelegenen kleinen Ort im westlichen Galiläa. Ein großes Holztor öffnete sich, und dahinter offenbarte sich ein romantischer Garten mit einem großen Teich. Dahinter das Haupthaus des Anwesens, ein mit Steinen aus der Umgebung errichteter Bau in einem gelungenen Stilmix zwischen einer Villa in der der Toskana und einem alten israelischen Landsitz. Ein junger Mann empfing uns mit einem Tablett mit Willkommensdrinks.

„Es ist überall so schlimm, da bin ich lieber hier.
Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Krieg so lange dauern wird, aber das hier ist unser Zuhause.“

 

Das Wochenende war himmlisch, jedes Detail in den Zimmern liebevoll und geschmackvoll ausgewählt. Wir schwammen täglich in dem mit Schilf und Wasserlilien umrandeten natürlichen Pool und machten Ausflüge zu Wäldern und Schluchten in der Region. Bei einem üppigen Frühstück in ihrem gemütlichen Gästehaus erzählten mir Roni und Tal Ronen, die Schwiegereltern des jungen „Mannes mit dem Tablett“, wie sie vor beinahe 30 Jahren beschlossen hatten, aus den USA zurückzukehren und sich im Norden Israels anzusiedeln. Sie erstanden das Anwesen aus dem späten 19. Jahrhundert, planten, renovierten und bauten alles selbst und schufen das „Haus in Abirim“, wobei Abirim „Ritter“ bedeutet. „Hierher möchte ich gerne wieder zurückkommen“, dachte ich damals.

Vor dem Krieg war dieses Haus ein Lichtblick für viele, die sich nach Ruhe sehnten.

11 Monate nach Beginn des Krieges rufe ich an, um zu fragen, wie es unseren Gastgebern von damals geht. Orr, eine der Töchter und die Frau des jungen Mannes mit dem Prosecco-Tablett ist am Telefon: „Wir sind seit dem 7. Oktober geschlossen“, sagt sie trocken. Sie kam erst eine Woche vor meinem Anruf in das Haus zurück, dessen Leitung sie vor zwei Jahren übernommen hat. Mittlerweile Mutter von drei Kindern, wollte sie ihre Älteste rechtzeitig mit Schulbeginn in der ersten Klasse einschulen. Und auch die finanzielle Belastung wurde immer schwieriger: „Wir bekommen inzwischen keine Unterstützung vom Staat und mussten die monatlichen Betriebskosten doppelt zahlen, dazu auch noch die Miete für die Wohnung in Tel Aviv.“

„Was würde mich erwarten, wenn ich jetzt käme?“, frage ich vorsichtig. „Ich würde dich nicht hineinlassen“, ist die prompte Antwort. Orr erzählt, dass sie das Gästehaus seit ihrer Heimkehr selbst noch nicht betreten hat. Der Schaden ist groß, denn so ein Haus, der Garten und die Bioteiche, das muss alles instandgehalten werden. Seit ihrer Rückkehr nach Abirim hatte Orr noch nicht den Mut, hineinzugehen und zu sehen, wie das Lebenswerk ihrer Eltern jetzt, nach elf Monaten, aussieht „Es ist alles so schrecklich traurig und deprimierend. Dieses Haus war ein Lichtblick für so viele Menschen. Es ist herzzerreißend, aber ich muss stark bleiben für die Familie, für die Kinder …“, flüstert sie ins Telefon.

„Wenn es Alarm gibt, laufen wir los, gleichzeitig
weiß ich, dass die Geschosse wahrscheinlich
schon irgendwo eingeschlagen haben […].“

Ich frage nach, was sich im täglichen Leben der Familie verändert hat. „Die Kinder haben dauernd gefragt, warum wir nicht zuhause sind. Ich versuche, sie vor all den Auswirkungen und Ängsten zu beschützen, aber wir hören hier die ganze Zeit den Lärm der Einschläge, der Schüsse und Flugzeuge. Und ich lasse sie nicht mehr allein zu den Großeltern in den Moschav gehen, aus Angst, es könnte Raketenalarm geben“, beschreibt sie ihren Alltag. Sie nimmt die Kleinen auch kaum auf Fahrten außerhalb des Moschav mit und hält sich mit ihnen möglichst immer in der Nähe eines Schutzraumes auf. Während wir im Zentrum des Landes 90 Sekunden haben, um, wenn die Sirenen losgehen, in einen „sicheren Raum“ zu gelangen, beträgt die Fluchtzeit in den Siedlungen so nahe an der Nordgrenze null bis wenige Sekunden: „Wenn es Alarm gibt, laufen wir los, gleichzeitig weiß ich, dass die Geschosse wahrscheinlich schon irgendwo eingeschlagen haben und wir ok sind“, sagt sie.

Shaked, die jüngere Schwester von Orr, lebte in einem Moschav weiter nördlich, in Ober-Galiläa, und wurde auf Staatskosten evakuiert. „Sie ist mit einem One-Way-Ticket nach Thailand geflogen“, kommentiert die Ältere kurz. Sie selbst und ihr Mann müssen sich ohne staatliche Unterstützung durchkämpfen. Er arbeitet in einem Unternehmen, und Orr kehrte in ihren vorherigen Job als Managerin eines Tel Aviver Restaurants zurück. Von Abirim dorthin sind das zweieinhalb Stunden Fahrt …

Ich frage nach ihrer Vision für die Zukunft: „Wie werde ich jemals wieder öffnen können?“, spinnt sie ihre Gedanken: „Wenn es doch endlich eine Lösung gäbe und die Menschen wieder in Ruhe hier im Norden leben könnten.“ Dieses Szenario scheint ihr im Moment nicht realistisch, aber ich glaube, einen Schimmer von Hoffnung aus ihren Sätzen herauszuhören: „Es ist überall so schlimm, da bin ich lieber hier. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Krieg so lange dauern wird, aber das hier ist unser Zuhause.“

Es hat natürlich angesichts der schrecklichen Schicksale hier im Land keinerlei Wichtigkeit, aber nach diesem Gespräch denke ich darüber nach, ob ich noch davon träumen darf, jemals wieder in dem grün schimmernden Teich zu schwimmen und danach von der Terrasse den Ausblick auf die ruhige, grüne Landschaft zu genießen. Vielleicht wäre das ja ein Zeichen dafür, dass hier wieder Normalität einzieht.

Es ist ein ferner Traum, aber man wird ja noch träumen dürfen.

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