„Keine Lebenskraft ohne Erinnerungsschmerz“

Unter dem Titel Vergessene Stücke präsentierten der Autor Simon Strauß und der Regisseur Zino Wey im Rahmen von zwei Lesungen bei den Salzburger Festspielen sträflich vernachlässigte Stücke.

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SIMON STRAUSS 1988 in Berlin geboren, schloß Strauß sein Studium der Geschichte und Altertumswissenschaften in Basel, Poitiers und Cambridge ab. Er ist Mitgründer der Gruppe Arbeit an Europa und ist Initiator des europäischen Zeitzeugenprojekts European Archive of Voices. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Hospitanzen am Berliner Ensemble unter Peter Stein und eine Gastdramaturgie am Staatsschauspiel Dresden. Er lebt in Frankfurt und Berlin und ist seit 2016 Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm Sieben Nächte (2017) und Römische Tage (2019). 2022 gab er die Anthologie Spielplanänderung: Dreißig Stücke, die das Theater heute braucht und 2023 kam die die Novelle zu zweit heraus. © Julia Zimmermann

WINA: Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen gab es im literarisch-dramatischen Angebot eine besondere Rarität, für die Sie und der Schweizer Dramaturg Zino Wey im positiven Sinn verantwortlich sind: ein szenisch-musikalischer Lesemarathon, ein Programm mit dem vielversprechenden Titel Vergessene Stücke, das sich über zwei Tage mit jeweils sieben Stunden erstreckte. Wie entstand die Idee zu diesem Projekt?

Simon Strauß: Bereits vor drei Jahren verspürte ich eine Ermüdung, die ich als Theaterkritiker in der gegenwärtigen Situation des Theaters erfahren hatte. Es waren immer wieder die gleichen Stücke zu sehen, die man laufend versucht hat, mit Überschreibungen aufzupoppen. Ich habe angefangen, mit vielen Menschen Gespräche über Theaterstücke zu führen und fragte einfach, was sie denn gerne wieder hören oder sehen würden – vor allem solche, die einfach vergessen wurden. Danach habe ich begonnen, Menschen aus der Theaterwelt einzuladen, mir zu Unrecht vergessene Autoren und Stücke vorzuschlagen. So gelang es wunderbar das kollektive Gedächtnis anzuzapfen. Und was dabei herauskam, war so spannend, dass ich gemeinsam mit Zino Wey begonnen habe, die empfohlenen Stücke und Texte auf ihre Bühnentauglichkeit zu überprüfen. Er allein hat 200 wenig bekannte Stücke durchforstet.

„Die Stücke stoßen ins Mark des heutigen Zeitgeistes,
und nur weil ein Stück in vergangenen Jahrhunderten
geschrieben ist, heißt es nicht, dass es nicht
hier und heute eine radikale Wucht entwickeln kann.“

Das Projekt Vergessene Stücke realisierten Sie bereits 2020 an der Volksbühne Berlin und 2022 in Bern. Also scheint es zu funktionieren?

I Ja, denn es geht an diesen langen Theatertagen in erster Linie darum, Neugier zu wecken. Neugier auf jene Form, Vielfalt und Welt, die uns mit den Stücken, die wir vergessen haben, verloren gegangen ist. Neugier auf Autorinnen und Autoren des Theaters, die wir nicht einmal mehr dem Namen nach kennen. Neugier auf ihre Erzählweisen, ihre Stimmen, ihre Ideale.

Das Programm lebt durch die Schauspielerinnen und Vortragenden, die ja wenigstens eine Affinität zum Autor oder zum Text haben müssen. Nach welchen Kriterien wurden die Autoren und Werke ausgesucht?

I Unser Blick in die Archive hatte einen Fokus und der lautete: Österreich. Die vergessenen Stücke, an die wir hier erinnern, haben alle einen Bezug zu diesem Land. Sie sind nicht alle in Österreich oder von gebürtigen Österreichern geschrieben, aber sie stammen von Autorinnen und Autoren, deren Lebenswelt und Gedankenspiel zur Zeit des Schreibens eng mit diesem Land verbunden war, im Guten wie im Schlechten. Wir präsentieren mehr als 20 vergessene österreichische Theaterstücke, Werke aus drei Jahrhunderten, Stimmen aus der Vergangenheit, die durch ihre Klangstärke tief in unsere Gegenwart hinein hallen. Die Stücke stoßen ins Mark des heutigen Zeitgeistes, und nur weil ein Stück in vergangenen Jahrhunderten geschrieben ist, heißt es nicht, dass es nicht hier und heute eine radikale Wucht entwickeln kann.

Simon Strauss: zu zweit. Tropen 2023, 160 S., € 23,50

Was einem jüdischen Medium auffallen muss, ist, dass ein Großteil der vergessenen Dramatikerinnen und Autoren Jüdinnen und Juden sind, angefangen von Anna Gmeyner und Maria Lazar bis zu Theodor Herzl und Jura Soyfer. Lässt sich das nur auf jüdische Schicksale wegen deren Vertreibung und Ermordung zurückführen?

I Der Zeitstrahl der österreichischen Dramatik hat viele dunkle Flecken. Sie verweisen auf das, was in der Vergangenheit aus den unterschiedlichsten Gründen vergessen, verdrängt oder verfemt wurde. Ein Großteil der österreichischen Theatertexte existiert heute nicht mehr — nicht in unserem Gedächtnis, nicht auf unseren Bühnen. Manches ist zufällig verloren gegangen, anderes ist absichtlich „ausgemerzt“ worden. Erinnerung hat immer auch eine politische Dimension. Gerade in Österreich. Gerade im deutschsprachigen Raum. Dass mehr als ein Drittel unserer Autorinnen und Autoren jüdisch sind, ist kein Zufall. Aber unser Kriterium bei der Auswahl war die Qualität: Und diese jüdischen Autoren und Schriftstellerinnen haben sehr gute, nachdenkliche und politische Stücke geschrieben, wie z. B. Anna Gmeyner mit dem Automatenbuffet. Wir ermöglichen mit diesem Projekt, noch ihre Echos mit den wütenden, sehnsuchtsvollen, verzweifelten Stimmen zu hören, die alle von den Nazis „ausgemerzt“ wurden. Wir haben das alles verloren, und daran leiden wir noch heute.

Erzählen die meisten nur Flucht- und Exilgeschichten?

I Sicher nicht: Sie berichten von Machtwechseln und verlorenen Illusionen, staunen über die Eigenart ihrer Schicksalsgenossen und träumen von fremden Wirklichkeiten. Sie treffen aus verschiedenen Zeiten, aus unterschiedlichen Welten bei uns ein. Wir haben heute eine Bewusstseinserweiterung sehr nötig, aus theatralen, dramaturgischen, aber auch aus erinnerungspolitischen Gründen. Wir können sicher nicht bei allen Autoren mit einer „Renaissance“ rechnen, weil wir sie hier präsentiert haben, aber wenn die Menschen nach Hause gehen und nur darüber nachdenken, was ist mit dieser Schriftstellerin oder jenem Autor – und was gibt es noch über Nestroy und Bernhard hinaus –, ist es schon erfreulich.

„Das Theater verharrt schon fast trotzig
auf seinen kanonischen Evergreens.
Um seine Behäbigkeit zu
kaschieren,
flüchtet es sich in formfremde Bereiche
wie Romanbearbeitungen oder digitale Projekte […].“

Wann können wir diese Produktion auch in Wien sehen und hören?

I Wir kommen sehr gerne, wenn wir eingeladen werden. Vielleicht hat der neue Burgtheater-Direktor Stefan Bachmann Interesse daran. Das passt gut auf eine der Bühnen eines Nationaltheaters. Man kann sich natürlich auch eine Reihe vorstellen, bei der man immer wieder neue Stücke vergessener Autoren entdeckt, Geschichte theatral umsetzt.

Als Herausgeber des Buches Spielplanänderung! aus dem Jahr 2020 mit dem Untertitel „30 Stücke, die das Theater heute braucht“ haben Sie eigentlich schon die Basis für das Projekt gelegt. Denn auch in den Vergessenen Stücken geht es um Themen unserer heutigen Zeit, Texte, die vor mehr als 800 oder erst vor 80 Jahren geschrieben worden sind, aber sträflich vernachlässigt wurden. Wodurch unterscheidet sich die Live-Performance inhaltlich von dem Buch?

I Im Buch kommen wenige Österreicher vor, nur Anna Gmeyner. Der Schwerpunkt der Theaterarbeit liegt hingegen auf österreichischen Kreativen. Hier wurde etwa Der blinde Passagier von Maria Lazar aus dem Jahr 1935 uraufgeführt. Maria Lazar wurde von Alfred C. Eibl, dem Gründer des Verlags Das vergessene Buch (DvB) wiederentdeckt, er hat auch die meisten ihrer Werke wieder aufgelegt. Ich durfte schon vor der Drucklegung Maria Lazars Die vergessenen Theaterstücke (erstmals aus dem Nachlass herausgegeben von Albert C. Eibl, 2024) einsehen. In Maria Lazars bis zu diesem Tag noch nicht aufgeführten Stück Der blinde Passagier verbirgt sich ein zwischen bedrückendem Krimi und Moralstudie changierendes Drama, dessen wütender Aufschrei „Es geht uns nichts an, ja?“ gerade heute wieder in die Knochen fährt. Es geht auch um die Flüchtlingsfrage und darum, Verantwortung für seine eigene Zeit zu übernehmen. Gibt es etwas Aktuelleres?

Dörte Lyssewski und Burkhard Klausner lasen aus Maria Lazars Der blinde Passagier. © Ruth Walz

Ich habe von Ihrem Projekt bereits Anfang Mai 2024 durch die Burgschauspielerin Dörte Lyssewski erfahren, weil sie schon damals begann, sich auf ihre szenische Lesung in Salzburg vorzubereiten. Es ging um Das neue Ghetto von Theodor Herzl aus dem Jahr 1898. Sie war von Ihrem Projekt und dem Text begeistert, den sie auch nicht gekannt hatte. Auch dieser Text eine Entdeckung?

I Wahrscheinlich nicht für Herzl-Experten. Aber für uns war dieser Text ein uraufgeführtes politisches Reflexionsstück, das als dramatische Vorstudie seiner gerade in diesen Tagen wieder vieldiskutierten Schrift über den Judenstaat gelesen werden kann und sich im ausgehenden Jahrhundert der Emanzipation für die Gründung eines eigenen Gemeinwesens ausspricht.

Als Schüler eines evangelischen Gymnasiums waren Sie bei einer Gruppe, die sich regelmäßig mit dem jüdischen Shoah-Überlebenden und Zeitzeugen Rolf Joseph traf. Aus diesen Begegnungen ist das Buch Ich muss weitermachen – die Geschichte des Herrn Joseph entstanden. Die Gruppe besteht noch und veranstaltet jährlich einen Wettbewerb, der Schülerinnen und Schüler dazu einlädt, sich mit jüdischer Geschichte und jüdischem Leben in Deutschland auseinanderzusetzen. Worauf fußt Ihr Interesse?

I Ja, das war in der Schule ein großes Geschenk, Rolf Joseph kennen zu lernen, er wurde zu einer sehr prägenden Gestalt für mich. Fast eine Art Großvater, dessen Lebensgeschichte mich über viele Jahre begleitet hat. Die Begegnung mit Joseph hat mit einen gewissen Stand gegeben, alles besser zu verstehen mit dem schrecklichen Hintergrund. Ich glaube fest an eine Erinnerungskultur, die auch eine Verantwortung in sich birgt. Wir müssen uns mit die sen Schicksalen immer wieder auseinandersetzen und davon auch eine Verantwortung ableiten, gerade als Deutsche.

Finanziert wird das aufwendige Projekt von den Salzburger Festspielen, als Ko-Financiers scheinen die Universität Mozarteum auf und die Claims Conference.* Wieso das?

I Die Claims Conference hat ein Vermittlungsprogramm in einem Salzburger Gymnasium finanziert, wo eine Schulklasse sich eine Woche lang mit dem Leben von Maria Lazar beschäftigt hat und auch einen Text von ihr eindrucksvoll uraufgeführt hat. Das beweist nur, dass auch Jüngere von Lazars ursprünglicher Eigenart des Dialoges und einem unbekannten Genre vollständig gepackt sein können.

Ihr Vater schreibt in Ihrem Buch Spielplanänderungen! eine sogenannte „Zugabe“ an Ende des Buches, über Charaktere aus Shakespeares sehr politischen Dramen. Ich habe wunderbare Erinnerungen an seine Bühnenstücke auch hier in Wien. Er ist ja noch aktiv, warum ist es so still um ihn geworden?

I Gerade jetzt wird hier in Salzburg das Stück Saul, das er schon vor etwa acht Jahren geschrieben hat, in einer Lesung von Jens Harzer uraufgeführt. Darin verdichtet er die biblische Erzählung aus dem Ersten Buch Samuel zum eindringlichen Porträt eines Menschen, der zerrissen wird von der ihm schicksalhaft zugeteilten Aufgabe. Aber Sie haben Recht, es gibt da eine gewisse Ungerechtigkeit gegenüber Botho Strauß – heute gelten ab einem bestimmten Moment einige Autoren als „abgespielt“, und dann interessiert es niemanden, dass man in den 1970erund 1980er-Jahren sehr erfolgreich Theaterstücke geschrieben hat, die diese Bezeichnung auch verdienen. Das Theater verharrt schon fast trotzig auf seinen kanonischen Evergreens. Um seine Behäbigkeit zu kaschieren, flüchtet es sich in formfremde Bereiche wie Romanbearbeitungen oder digitale Projekte, auch um damit Signale der Aufgeschlossenheit zu senden. In Wahrheit aber schottet es sich dadurch selbst vor den Fiktionssehnsüchten der Gegenwart ab und verliert jedes Formbewusstsein — das Theater muss seine Stücke wiederfinden, sonst wird es auf der Strecke bleiben.


* Die Claims Conference führt Verhandlungen über Entschädigungsleistungen und Mittel zur
Unterstützung von NS-Opfern sowie die Restitution und Entschädigung jüdischen Eigentums. Sie fördert soziale Dienstleistungen zugunsten von betagten und bedürftigen NS-Opfern. Ein kleiner Teil der Zuwendungen aus Mittel der Nachfolgeorganisation wird für die Förderung von Institutionen eingesetzt, die sich der Erforschung und Vermittlung der Shoah und ihrer Dokumentation widmen.

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