Ahnung von einer unbekannten Region

Mit seinem Buch Adieu, Osteuropa. Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt reist der amerikanische Journalist und Historiker Jacob Mikanowski in Windeseile durch Jahrhunderte und Kulturräume. Dabei gibt er teils persönliche Einblicke, auch in die zerstörte jüdische Welt der Stetl sowie der urbanen, modernen jüdischen Kultur.

136

Es ist ein kühnes Unternehmen, und natürlich löste es nicht nur positive Reaktionen aus. Jacob Mikanowski hat sich gleich eine ganze Großregion und ihre Geschichte vorgenommen und darin eine Tour de Force gewagt. Diese Reise durch das „verschwundene“ Osteuropa beginnt mit den Aufzeichnungen des römischen Kaisers Marc Aurel über ein unbekanntes Waldgebiet jenseits der Donau, streift die Christianisierung, rast durch die Reiche der Habsburger, der Zaren und der Ottomanen, beleuchtet kurz den sowjetisch-stalinistischen Herrschaftsraum und endet in der Gegenwart moderner europäischer Industriestaaten und eines neuen imperialen Kriegs, jenen Russlands gegen die Ukraine.

Mikanowski bietet keine traditionelle historische Erzählungen, Abläufe entlang nüchterner Daten und durchdeklinierte Herrscher-Dynastien. Er setzt stattdessen immer wieder auf Beispiele als typisch für einzelne Epochen oder Gegenden, wird auch gelegentlich persönlich mit seiner polnischen, jüdisch-katholischen Familie, die in die USA emigrierte, die aber zuvor auch zeitweise im Kommunismus eine Zukunftshoffnung gegen Armut und Nationalsozialisten gesehen hatte.

Der Autor kann seine romantische Faszination mit der einstigen kulturellen Viel falt oft nicht zurückhalten, er schwankt zwischen den Beschreibungen von Zusammenleben, Kooperation und Toleranz auf der einen Seite, den immer wiederkehrenden Ausbrüchen von Gewalt, Kriegen und Raub auf der anderen. Vor diesem Hintergrund ist das Buch dennoch eine gute Einstiegsdroge in die Beschäftigung mit einer aus westlicher Sicht weitgehend unbekannten und lange Zeit auch unbeachteten Region.

Das gilt ebenso für die Darstellungen des osteuropäischen Judentums. Spezialisten werden darin kaum Überraschendes finden, für interessierte Neulinge können diese einen ersten Überblick, einen Anstoß zum gezielten Weiterlesen bieten.

Jacob Mikanowski:
Adieu, Osteuropa. Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt
Rowohlt 2023, 512 S., 28,49 €

Es geht los mit ersten jüdischen Reisenden, die aus dem arabischen Katalonien kamen und eine waldreiche Gegend vorfanden, in der lediglich einfache befestigte Orte mit hölzernen Palisaden standen. Die ökonomischen Tätigkeiten kreisten rund um den Fell- und Sklavenhandel. Die ersten jüdischen Siedler sprachen einen slawischen Dialekt, schrieben allerdings mit hebräischen Buchstaben.

Im Spätmittelalter setzte dann der Zuzug aschkenasischer Juden ein, die aus Deutschland vertrieben wurden. Sie konzentrierten sich vor allem in der damaligen Polnisch-Litauischen Union, deren katholische Herrscher an einem Zuzug durchaus interessiert waren. Das Judentum erblühte dort. Laut Mikanowski können sich moderne Demografen das starke Bevölkerungswachstum kaum erklären, den Juden schien diese Blüte allerdings vorbestimmt. Um 1600 waren Juden in Polen angeblich weitgehend frei von religiöser Verfolgung, man sprach von einem „Paradisus Judaeorum“, einem Paradies der Juden. Von dort breiteten sie sich sukzessive in andere Regionen Osteuropas aus.

Kein Frieden auf immer. Die Aschkenasen waren freilich nicht die einzigen Juden in Osteuropa. Auf dem Balkan gab es noch die alten Gemeinden, die auf das Römische Reich zurückgingen und Griechisch sprachen. Mit der Vertreibung aus Spanien und Portugal ab 1492 kamen dann Sepharden in das Ottomanische Reich, in Gebiete des heutigen Bulgarien, Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina.

Doch es sollte nicht friedlich bleiben. Die lange Reihe von Pogromen startete im Polnisch-Litauischen Reich 1648 mit einem Konflikt zwischen Katholiken, der sich schnell gegen die Juden richtete. Es folgten Verwüstungen durch Schweden, Tataren und Russen. Eine Spirale der Gewalt war in Gang gesetzt. Teilweise als Reaktion darauf entwickelte sich eine Kultur von magischer Selbstbezogenheit, die Wunderrabbis Osteuropas sollten zu Hoffnungsträgern werden, die chassidische Kultur mit Gebet, Tanz und Gesang wurde immer bedeutender.

Diese wiederum kritisierten vor allem in Litauen orthodoxe Gelehrte als abergläubisch und ignorant. Und ab dem 19. Jahrhundert formierte sich eine weitere Gruppe: die modernen urbanen Juden, die nicht notwendigerweise assimiliert, aber offen gegenüber technologischen, künstlerischen und politischen Veränderungen waren. Neben den tausenden kleinen Stetln, in denen es oft jüdische Bevölkerungsmehrheiten gab, nahmen Juden zunehmend am bürgerlichen Leben teil, und das nicht nur in Metropolen wie Wien oder Budapest, sondern auch in regionalen Subzentren, etwa Temeswar, Czernowitz oder Lemberg.

Hier stießen sie auch schon auf dezidierte Gegner wie deutschnationale Antisemitenvereine. Und nach dem Zerfall der Reiche waren die neuen Nationalstaaten auch recht schnell mit der Verlautbarung antisemitischer Gesetze und Verordnungen, die Juden in unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten beschränken oder sie ganz heraushalten sollten. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich: Manche Juden nahmen die Herausforderungen vor Ort auf, schlossen sich den Kommunisten an oder wurden jüdische Sozialisten im Bund, andere sahen im Zionismus und im Auswa ndern nach Palästina ihr Heil. Die Emigration in die USA nahm ebenfalls an Geschwindigkeit zu.

Zu Krieg, Deportationen und Massenmord bringt Mikanowski als Beispiel das galizische Städtchen Drohobycz des bekannten polnisch-jüdischen Schriftstellers Bruno Schulz. Hatten dort vor dem Krieg in einer polyglotten Gemeinde 10.000 Juden gelebt, so überlebten den Horror bloß 400. Der Autor besuchte den Ort im Jahr 2019 und fand dort nur „Apathie und Verfall“. Von allen in Polen vor dem Krieg lebenden etwa drei Millionen Juden waren 92 Prozent ermordet worden. Doch damit nicht genug. Unter den wenigen Überlebenden gab es 1946 wieder ein Pogrom, jenes in Kielce, später weitere in Polen, Ungarn und in der Slowakei. „In ganz Osteuropa fehlten auf einmal die Juden, die dort Jahrhunderte lang gelebt hatten. Sie wurden auch selten betrauert.“

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here