„Auf einmal war das Gegenwart“

Jüdische Universitätslehrende in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 an ihrem Arbeitsplatz massiv mit Antisemitismus in verschiedensten Facetten konfrontiert. Nun gibt es ein neues Netzwerk, das hier einerseits Betroffenen einen „Safe Space“ bietet, andererseits versucht, auf Universitätsebene mehr Bewusstsein für das Problem und vor allem Präventionsarbeit zu erwirken.

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Protest-Camp auch am Uni-Campus im Alten AKH: Nach der Räumung versammelten sich die Protestierenden auf der Alser Straße und blockierten dort den Verkehr. © APA/MAX SLOVENCIK

Rund 140 Mitglieder zählt das Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender aktuell, erzählt die Vorsitzende des Netzwerks, die in Frankfurt am Main tätige Antisemitismusforscherin Julia Bernstein, im Gespräch mit WINA. In Österreich haben sich bundesweit an die 20 Lehrende dem Netzwerk angeschlossen. Hier hatte Verena Krausneker, Sprachwissenschafterin an der Universität Wien, allerdings schon vor rund zwei Jahren begonnen, Vernetzungsarbeit in Form einer Mailingliste zu leisten: Auslöser dafür war das Gefühl von NichtRepräsentation, etwa, wenn die Universität zwar zu jedem christlichen Fest Glückwünsche an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen schickte, es Ähnliches aber weder beispielsweise zum Ramadan oder eben zu jüdischen Feiertagen gab. Gut ist ihr noch jener Herbst in Erinnerung, als ihr eigenes Institut die Versammlung von Lehrenden zu Semesterbeginn genau auf Jom Kippur legte. „Da habe ich mich extrem ignoriert gefühlt.“

Seit dem 7. Oktober geht es aber um weit mehr. Das Netzwerk hat diesen Sommer eine Umfrage unter seinen Mitgliedern durchgeführt, etwa die Hälfte davon nahm an der Befragung teil. Die Ergebnisse sind mehr als deutlich – und ernüchternd: Demnach berichteten 41 Prozent der Hochschullehrenden, die sich an der Umfrage beteiligten, dass sie in den vergangenen Monaten über E-Mail oder Social Media belästigt wurden. 64 Prozent erlebten verbale Angriffe im akademischen Umfeld, 14 Prozent sogar physische Bedrohungen und Sachbeschädigungen.

Abgefragt wurde auch, wie die Betroffenen sich in dieser Situation fühlen beziehungsweise wie sie auf die Bedrohungen reagierten. Demnach gaben 14 Prozent an, derzeit Personenschutz oder andere spezielle Schutzmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. 13 Prozent sind auf Grund der Anfeindungen auf Online-Lehre umgestiegen. 76 Prozent sind der Ansicht, von ihrer Hochschule sei kein klares Sicherheitskonzept verabschiedet und an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kommuniziert worden. Jeder Dritte plädiert für eine erhöhte Polizeipräsenz auf dem Campus, jeder Vierte für Zugangskontrollen zu den Uni-Gebäuden.

„So gab zum Beispiel auch eine Lehrperson an,
sich nun immer im Büro einzuschließen und nur bei
vorangekündigter Sprechstunde zu öffnen.“

Julia Bernstein

Wirklich schockierend sind die Aussagen vieler Befragter zu den konkreten Details der von ihnen erlebten Vorfälle. So bekam eine Lehrende zu hören, „dass man mich vor 80 Jahren vergast hätte“. Eine andere Lehrperson traf sich mit Kollegen zu einem Abendessen, dabei flackerte ein Kerze – Rauch stieg auf. Die Person habe diese daraufhin gelöscht, den Docht gekürzt und die Kerze wieder angezündet. Ein Kollege meinte daraufhin: „Ihr kennt euch ja mit dem Rauch aus.“ Gravierend auch dieser Vorfall: Das Institut einer Lehrenden wurde von propalästinensischen Aktivisten besetzt. „Als ich den Notausgang frei gemacht habe, wurde ich verbal und physisch angegriffen.“ Andere klagten über fehlende Empathie und eine sofortige Täter-Opfer-Umkehr: „Da kamen Bilder über Juden als Strippenzieher, Juden, die total mächtig sind, die eine Gefahr darstellen. Juden wurden sehr rasch von Opfern zu Tätern imaginiert. Das hat sich mit dem Krieg in Gaza gesteigert. Eine Auseinandersetzung mit jüdischem Leid ist oft verpufft“, sagt Bernstein. „Nur über Antisemitismus zu sprechen, ist nahezu unmöglich, ohne dass man sofort auch über andere Diskriminierungen äußern muss.“

Vieles, was jüdische Lehrende zu hören bekamen, erhöhte das Unsicherheitsgefühl. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Vorfälle vom 7. Oktober auch unmittelbar auf die jüdischen Hochschullehrenden, wie auf viele Juden und Jüdinnen weltweit, physische und psychische Auswirkungen – dabei bei einigen vor allem Schlaflosigkeit und Alpträume – ausgelöst hatten. Sich nun in einer Situation zu sehen, in der kaum bis keine Unterstützung kam und sowohl von Studierenden als auch aus dem Kollegenkreis unverhohlener Antisemitismus geäußert wurde, ließ eine Grundverunsicherung und Erinnerungen an die Verfolgung in der Vergangenheit hochkommen.

Dazu kam, dass einige Befragte schilderten, wie ihnen auch ihre fachliche Kompetenz abgesprochen wurde. „Aus der Umfrage geht hervor, dass einige jüdische Kollegen nun bei Entscheidungen überstimmt, überhört, ihre Redebeiträge ausgeblendet und als ausschließlich subjektive Meinung abgetan werden“, so Bernstein. „Das führt auch dazu, dass die Interpretationshoheit darüber, was antisemitisch und was nicht antisemitisch ist, oft eher bei nichtjüdischen Menschen liegt, deren Alltagserfahrung das nicht ist und die es sich aus einer komfortablen, privilegierten Position leisten, sich dazu zu positionieren und zu entscheiden.“

Bernsteins bitteres Fazit: Der 7. Oktober habe vielen „die Kontinuität jüdischer Verfolgung aufgezeigt. Was zuvor als geschichtlich verortet wurde, traf nun auf einen selbst zu. Auf einmal war das Gegenwart. Und welche Vernichtungsphantasien da plötzlich freigesetzt wurden, das hat uralte, existenzielle Ängste, das hat in vielen Fällen tradierte, transgenerationale Traumata aktiviert.“ Die Folgen sind nicht nur physische Symptome, sondern auch ein zunehmendes Misstrauen gegenüber dem Umfeld. „So gab zum Beispiel auch eine Lehrperson an, sich nun im Büro immer einzuschließen und nur bei vorangekündigter Sprechstunde zu öffnen“, erzählt Bernstein.

Dieses Verhalten habe einen realen Auslöser: Es seien eben viele der jüdischen Hochschullehrenden beschimpft, bedroht, ihre Räumlichkeiten an der Uni verwüstet worden. An vielen, vor allem deutschen Unis sei es auch nicht möglich gewesen, Plakate mit den Fotos der Geiseln aufzuhängen. „Sie wurden immer wieder heruntergerissen, die Gesichter zerkratzt.“ Dazu kamen baldige Relativierungen der Geschehnisse vom 7. Oktober – „ja, aber“ – und gleichzeitig Rechtfertigungsforderungen an jüdische Lehrende.

Doch auch Einsamkeitsgefühle machten sich unter einigen der jüdischen Hochschullehrenden breit. So meinte eine Befragte: „Dass wir an der Hochschule ein verdecktes, aber für mich als (Jüdin, Anm.) deutlich spürbares Antisemitismusproblem an vielen Stellen haben, das von Kollegen und Kolleginnen negiert wird, empfinde ich als sehr belastend. Ich fühle mich komplett allein gelassen. Ich bin ständig in Sorge, dass Antisemitismus offen, nicht nur verbal ausbrechen kann.“

Aber auch die Institution Universität sei in vielen Städten nicht gut mit der Situation umgegangen. Da seien einerseits Veranstaltungen abgesagt oder jüdische Lehrende als Vortragende ausgeladen worden. Die Argumentation: Es gebe ein Sicherheitsproblem. Da sei das Thema Antisemitismus in einigen öffentlichen universitären Veranstaltungen nur auf die Vergangenheit reduziert worden. Eine Auseinandersetzung mit zum Beispiel Israel-bezogenem Antisemitismus werde dagegen an vielen Universitäten vermieden.

Das neue Netzwerk will daher nicht nur festhalten und sichtbar machen, was ist, sondern setzt sich auch für Verbesserungen in unterschiedlichen Formaten ein. Gefordert werden zum Beispiel AntisemitismusBeauftragte an allen Unis, deren Wirken auf der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) basiert. Es brauche bessere Sicherheitsvorkehrungen und klare Richtlinien zum Umgang mit Gefährdungslagen jüdischer Hochschullehrender. Benötigt werde aber auch Sensibilisierung und Aufklärung über die Problemdynamiken. Das Zauberwort lautet: Antisemitismusprävention. Hochschulen müssten an einer inklusiven Kultur arbeiten.

Die Mitglieder des Netzwerks bemühen sich aber auch, einander gegenseitig zu unterstützen. Da ist einerseits die Safe-SpaceFunktion, die auch Krausneker für Österreich hervorstreicht. Da gehe es aber auch darum, positive Ressourcen zu schaffen, meint Bernstein. „Wir planen etwa einen Sprachkurs für Iwrit oder Veranstaltungen dazu anzubieten, wie das Judentum in der Tora mit Krisen und Konfliktsituationen umgeht.“ Die Krise habe bei vielen auch dazu geführt, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Auch dieses Phänomen kennt Bernstein aus ihrer Arbeit. „Wir wissen aus der Forschung, dass Menschen anders mit Diskriminierung umgehen, wenn sie eine positive, feste Identität haben.“

Leidtragende des im Gefolge der Ereignisse des 7. Oktober weltweit angestiegenen Antisemitismus sind an den Unis nicht nur die jüdischen Lehrenden, sondern auch die jüdischen Studierenden. Für sie haben sich nun an den einzelnen Hochschulen jüdische Lehrende als Vertrauenspersonen im Fall von antisemitischen Vorfällen oder problematischen Situationen zur Verfügung gestellt. An der Universität Wien hat Verena Krausneker diese Aufgabe übernommen. „Ich stehe ab sofort jüdischen Studierenden und auch anderen Betroffenen von Antisemitismus zur Verfügung. In dieser Rolle möchte ich selbstverständlich, wo immer es geht, eng mit den relevanten Stellen in und außerhalb unserer Universität zusammenarbeiten.“ Gemeinsam mit den Jüdischen Österreichischen Hochschüler:innen (JÖH) will sie sich zudem für die Normalisierung jüdischen Lebens am Campus einsetzen.

n-j-h.de

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