„Beim Tanzen sollte ich mich austoben und ruhiger werden“

Die israelische Tänzerin und Choreografin Adi Hanan wurde nicht ruhiger, sondern kreativer. Sie gehört seit vier Jahren dem Wiener Staatsballett an und hat soeben mit Eden eine beachtliche choreografische Arbeit abgeliefert.

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Adi Hanan: Die Chreografin und Tänzerin fand die Essenz Ihres Jüdisch-Seins in Spinozas Philosophie. © Marian Furnica

ADI HANAN wurde 1989 unweit von Haifa geboren. Sie erhielt ihre Ausbildung u. a. an der Thelma Yellin High School of the Arts in Tel Aviv. An der Tel Aviv University absolvierte sie das Humanities-and-Arts-Studium. 2007–2010 war sie Mitglied des Israel Ballet und arbeitete eng mit der New Israel Opera zusammen; 2012–2016 tanzte sie im Jerusalem Ballet, danach wirkte sie als freiberufliche Tänzerin bei den Salzburger Festspielen 2016 in Faust sowie 2017 in der Eröffnungszeremonie der europäischen Kulturhauptstadt Paphos (Zypern) mit. 2017–2020 war Hanan Ensemblemitglied der Ballett Compagnie Oldenburg in der Direktion von Antoine Jully, wo sie in dessen Choreografien sowie u.a. in Arbeiten von Martha Graham, Alwin Nikolais und Martin Schläpfer zu erleben war. Ballett-Direktor Schläpfer entdeckte Hanan in Oldenburg und machte sie ab der Spielzeit 2020–2021 zum Mitglied des Wiener Staatsballetts. Im Rahmen der Plattform Choreographie 2022/23 lieferte die Künstlerin ihre erste eigene Choreografie Shadows ab. Nach dieser beeindruckenden Arbeit betraute sie Schläpfer mit einer weiteren Uraufführung für das Wiener Staatsballett: Eden ist das Mittelstück im dreiteiligen aktuellen Ballettabend Les Sylphides, in dem sich Hanan einer der berühmtesten biblischen Geschichten annimmt: Adam mit Eva im Garten Eden.

WINA: Ihre erste längere Choreografie für das Staatsballett an der Wiener Volksoper heißt Eden. Diese ist sehr beeindruckend, denn Ihre Arbeit ist so sinnlich, humorvoll und fantasiereich. Wie entstand diese Idee in Ihnen?

Adi Hanan: Ich habe an der Tel Aviv University meinen Bachelor in den Fächern Kunstgeschichte, jüdische und allgemeine Philosophie und Psychoanalyse abgeschlossen und versucht, all das in meiner Eden- Produktion über Adam und Eva zu thematisieren.

Kann man diese drei Fächer kombinieren?
I Es gab einen Moment in meiner Tanzkarriere, an dem ich diese unterbrochen habe, um an der „normalen“ Universität zu studieren. Dort fokussierte ich mich auf die Frage, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Ich musste den tieferen Sinn hinter dem Wort erkunden, um zu verstehen, was die Geschichten, mit denen wir aufgewachsen sind, wirklich bedeuten.

Und haben Sie die Antwort darauf gefunden?
I Für mich ja, denn das ist etwas sehr Persönliches. Beim Philosophen Baruch Spinoza bin ich fündig geworden: Für mich hat er die Definition von G-tt, Liebe und unserem ganzen Dasein. Das alles wollte ich in Eden berühren und zusammenführen: Diese Choreografie drückt das alles für mich aus.

 

Sie haben schon seit Ihrem Studium diese Idee in sich getragen, aber erst jetzt an der Volksoper verwirklichen können?
I Ja, das ist zirka zehn Jahre her, das hat förmlich in mir gekocht – und musste raus … (lacht).

 

Adi Hanan tanzte am 07. Oktober 2023 in der Premiere von Coppélia – und verließ heulend die Bühne. © Reinhard Engel

Einiges an Ihrer Choreografie erinnerte mich an die renommierten Tanzgruppen in Israel, z. B. die Batsheva Dance Company, aber auch an die wunderbaren Choreografinnen Pina Bausch und Anne Teresa De Keersmaeker. Gehören die beiden zu Ihren Vorbildern?
I Ich würde eher sagen, dass ich mich auf die jüdische Folklore beziehe. Da sind viele Bewegungen aus der Folklore in Israel, die Männer, die sich nach vorne und hinten wiegen, wie beim Gebet. Ich schätze die israelischen Choreografen sehr, aber ich glaube, ich bin mehr strukturiert, technisch, neo-klassisch unterwegs. Ich sehe viel mehr klassische Einflüsse in meiner Arbeit, die ich auch hier laufend an der Staatsoper praktiziere, sie ist organisierter und zarter als bei den Produktionen von Batsheva.

„[…] wenn man nicht in israelischen Gegebenheiten aufgewachsen ist und auch nur einen Funken
davon miterlebt
hat, ist man eigentlich nicht in der Lage, diese zu beurteilen.“

Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, Tänzerin zu werden? War jemand in der Familie künstlerisch tätig?
I Nein, überhaupt niemand. Ich bin im Norden Israels aufgewachsen, in einem Tal in der Nähe von Haifa, und ich wollte immer schon tanzen. Ich war sehr lebhaft, hatte viel überschüssige Energie, daher schickten mich meine Eltern zum Tanzen und hofften, ich würde mich dort austoben und ruhiger werden.

Wie kamen Sie nach Europa? Wie kam es zum Engagement bei den Salzburger Festspielen 2017?
I Ich war am Jerusalemer Ballett engagiert, wo auch Giorgio Madia, der italienisch-österreichische Choreograf, eine Arbeit ablieferte. Er bereitete gerade Faust für die Salzburger Festspiele vor und lud mich ein, dort zu tanzen.

Sie hatten als Tänzerin bereits eine erfolgreiche Karriere. Wann sind Sie auf die Idee, den Wunsch gekommen, auch zu choreografieren?
I Eigentlich war das immer schon mein Traum, aber ich war noch nicht bereit. Ich liebe es, selbst zu tanzen, ich erfülle auch gerne die Visionen und Wünsche von anderen, aber seit ich klein war, habe ich mir Stücke ausgedacht und meine Eltern gezwungen, sich hinzusetzen und mir zuzuschauen. Ich wollte das also schon immer, aber es geht darum, ob man mutig genug ist, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.

 

Mussten Sie das Choreografieren extra studieren, oder entsteht das aus dem eigenen Tanzwissen, aus der Erfahrung?
I Ich glaube, es kommt vieles aus der Erfahrung als Tänzerin, aber auch aus der Inspiration. In der Kunsthochschule hatte ich fünf Fächer, darunter auch Komposition, Musikgeschichte etc., aber das Wichtigste ist sicher die Grundlage des klassischen Balletts.

 

Haben Sie Militärdienst geleistet?
I Ich hatte bereits ein Diplom als professionelle Tänzerin, als ich zum Militärdienst einberufen wurde. Die Armee nimmt jährlich nur fünf Tänzer und fünf Tänzerinnen auf, die sich während des zweijährigen Dienstes täglich sechs Stunden ihrer Weiterbildung oder ihren Auftritten widmen dürfen. Ich schaffte glücklicherweise diese Aufnahme. Zuerst macht man natürlich das Grundtraining, wie alle anderen Rekruten. Ich war z. B. bei der Luftwaffe auf einer Basis in der Wüste, konnte aber auch üben und tanzen, weil ich schon beim Israel Ballet angestellt war. Diese zwei Jahre waren schon sehr heftig, denn mein Tanztraining absolvierte ich immer bis fünf Uhr nachmittags und danach war ich bis 23 Uhr auf der Basis im Dienst.

 

Wo waren Sie am 7. Oktober 2023, als die Hamas- Terroristen Israel im Süden angriffen und mehr als 1.200 Menschen abschlachteten?
I An diesem Samstag hatten wir am Abend die Premiere von Coppélia – an diesem Tag verstummte ich komplett. Ich musste mich konzentrieren, damit ich funktionieren konnte, denn ich tanzte zwar in einer Gruppe, musste aber glücklich strahlen – es war unglaublich schwer, meine Gedanken wegzuschieben, ich ging dann heulend von der Bühne ab.

 

Wer wurde aus Ihrer Familie in diesen Krieg eingezogen?
I Mein etwas jüngerer Bruder musste als Reservist sofort Richtung Gaza. Ich wusste, dass ich jeden Augenblick eine schlimme Nachricht erhalten könnte – und ich bin auf der Bühne und lächle … Zum Glück ist er wieder zu Hause. Mein Schwager, mein Cousin und viele Freunde haben bereits ihren Reservedienst in dieser schrecklichen Lage abgeleistet.

 

Wie waren die Reaktionen Ihrer Tanzkolleginnen und Tanzpartner?
I Alle waren sehr feinfühlig und respektvoll, denn sie wussten, was ich dachte und fühlte. Die ganze Lage ist sehr kompliziert, und meine nähere Umgebung hat versucht, die Komplexität der Situation zu verstehen. Natürlich haben manche eine andere Sicht, ich versuche das zu ignorieren. Denn wenn man nicht in israelischen Gegebenheiten aufgewachsen ist und auch nur einen Funken davon miterlebt hat, ist man eigentlich nicht in der Lage, diese zu beurteilen. Wenn man in Europa aufgewachsen ist, war das Leben trotz aller persönlichen Probleme sehr, sehr komfortabel – und ich glaube, aus dieser Perspektive zu urteilen, ist schon ein wenig respektlos. Wenn jemand diese Probleme bagatellisiert, dann zoome ich mich hinaus. Ich habe meine Meinung, aber ich bringe sie nicht zur Arbeit. In dieser Situation hat niemand recht oder unrecht, denn es herrscht unglaubliches Leid auf beiden Seiten, und ein „Urteil“ bietet keine Basis für eine Kommunikation.

 

Was sind Ihre nächsten Pläne, sowohl als Tänzerin wie auch als Choreografin?
I Als Tänzerin bereiten wir an der Staatsoper gerade das Programm Im siebten Himmel vor, eine Hommage an das klassische Ballett mit Werken von George Balanchine, Marco Goecke und Martin Schläpfer – da tanze ich in all drei Sequenzen. Darauf folgt Schwanensee, und am 29. Juni findet die Nurejew-Gala 2024 statt – und dann kommen die Sommerferien bei meinen Eltern in Israel.

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