„Das Schreiben ist meine Form der Wehrhaftigkeit“

Harry Bergmann: Porträt eines spätberufenen Kolumnisten, der mit Herzblut gegen den stetig brennender werdenden Antisemitismus unser Zeit anschreibt.

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Harry Bergmann: erfolgreicher Werbefachmann und nun auch Falter-Kolumnist. © FOLTIN Jindrich / WirtschaftsBlatt / picturedesk.com

Unter dem Label „Loge 17“ erscheinen seine Kolumnen alle zwei Wochen auf falter.at. Allein der Name dieser Kommentarreihe beflügelt die Fantasie: Aus welchem Geheimbund wird hier berichtet? Die Antwort darauf ist ernüchternd einfach: Harry Bergmann, der nach 40 Jahren als geschäftsführender Gesellschafter eine der erfolgreichsten Werbeagenturen des Landes verlassen hat, richtete sich sein neues Schreibbüro just im Café Landtmann ein: Die letzte Loge im großen Saal, beim Fenster zur Ringstraße, trägt die Nummer 17. Die Inspiration in diesem hintersten Eck des Cafés muss trotzdem beachtlich sein, denn so sind auch die Texte des arrivierten Werbers. Scharfzüngig, geistreich-ironisch, sprachspielerisch, aber oft auch besorgt und traurig, schreibt sich der 1951 in Haifa Geborene vieles von der Seele. Denn Bergmann nimmt sich sowohl die österreichische Innenpolitik sarkastisch vor wie auch den sorglosen – und daher folgenschweren – Umgang mit den Werten der Demokratie in Europa. Doch seit dem immer noch nicht fassbaren Massaker der Hamas-Terroristen in Israel am 7. Oktober 2023 hat sich auch für den Vater dreier Söhne nicht nur die jüdische Welt dramatisch verändert.

„Die Hamas und ihre Blutgier kann Israel nicht beeinflussen. Die kann man nur bekämpfen. Gänzlich vernichten kann man sie wohl nicht. 90 Prozent ihrer Infrastruktur ist höchstwahrscheinlich schon zerstört. Der Preis für die restlichen zehn Prozent wird täglich höher und unerträglicher“, resümiert der NeoFalter-Kolumnist in einem seiner knapp 200 Beiträge, die sich seit dem 7. Oktober vermehrt mit den traumatischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Israel, aber auch mit dem erschreckend offen zutage getretenen Judenhass weltweit beschäftigen.

„Ich – und alle Juden der Welt – sind seit dem Massaker des 7. Oktobers der Kollateralschaden eines Krieges, der Tausende Kilometer von uns stattfindet. Oder sollte ich lieber sagen: Seit dem 17. Oktober? Denn ein paar Tage durften die Opfer noch Opfer sein“, klingt es frustriert Anfang Juni unter dem Titel Ich, der Kollateralschaden aus der Loge 17. „Ich kann israelregierungskritisch sein, wie ich will, wird mir doch alles, was in Gaza passiert, um die Ohren geschnalzt.“

„Laut sind nur die Sirenen. Im Norden war wieder täglich Alarm. Trauma ist ein Schalldämpfer.
Trauma eines ganzen Landes ist eben ein riesiger Schalldämpfer.“
Harry Bergmann

Aber Bergmann versinkt nicht im Selbstmitleid, sondern berichtet von seinen jüngsten Eindrücken in Israel: „Das Land hört sich anders an als vor dem 7. Oktober. Leiser. Gedämpfter. Die wilden Diskussionen im Kaffeehaus, bei denen sich Netanjahu-Fans (eigentlich hat er keine Fans, er hat Gläubige, wie Trump) mit den Netanjahu-Hassern gefetzt haben – gedämpft. Das ständige, nervige Autohupen, wenn man es wagt, nicht einen Sekundenbruchteil nachdem es grün geworden ist loszupreschen – gedämpft“, so der aufmerksame Beobachter. „Laut sind nur die Sirenen. Im Norden war wieder täglich Alarm. Trauma ist ein Schalldämpfer. Trauma eines ganzen Landes ist eben ein riesiger Schalldämpfer.“

Harry Bergmann, der sowohl in Wien wie auch in Herzliya einen Wohnsitz hat, fragt sich immer wieder, wie viele Eltern, die in der gleichen Straße leben, ein Kind in der Armee in Gaza haben. Er liefert die Antwort gleich mit: „Durch eine perfide Strategie in einen Krieg hineingezogen, in Schuld hineingezogen. Weil man diesen Krieg nicht ohne Schuld kämpfen kann. Denn Beschützen in Israel heißt kämpfen. Und zwar kämpfen, wann und wie es der Feind vorgibt.“

Wie hat die zweite Karriere dieses spätberufenen Autors eigentlich begonnen? „2019 habe ich in der Agentur aufgehört; bald darauf ist die Covid-Pandemie ausgebrochen – wegen des zweifachen Stillstandes, war mir fad“, lacht er. „So habe ich Social Media für mich entdeckt. Ich entwickelte den Ehrgeiz, Twitter als literarisches Format zu sehen, und wollte testen, ob es möglich ist, mit 144 Zeichen etwas zu sagen, außer nur den Nächstbesten zu beleidigen.“ Die Knappheit der Texte schaffte das Besondere. „Später begann ich mich für größere Formate zu interessieren und wagte mich an – zumeist politische – Artikel.“ Joachim Riedl, der damals die ÖsterreichSeiten der Zeit verantwortete, druckte als Erster einen Text. Bergmann erzählte seinem Freund Oskar Bronner davon, aber der wollte ihm das Kolumnen-Schreiben grundsätzlich ausreden. Das hat ihn erst so richtig angestachelt – „und so setzte ich mich in die Loge 17 des Café Landtmann und begann zu schreiben.“ Armin Thurnher, Herausgeber des Falter, fand seine Texte gut und betreut diese auch persönlich. „Armin fördert mich und gibt mir Mut: ‚Hör’ ja nicht auf zu schreiben‘, sagt er immer wieder.“

Und wie reagiert die Leserschaft auf seine eigenwilligen und nicht selten mit Herzblut geschriebenen Beiträge? „Viele mögen sie, sagen und schreiben mir das. Von anderen erhalte ich wüste Beschimpfungen bis zu Bedrohungen – da bin ich mit dem Online-Blockieren schwer beschäftigt.“

Warum versucht er trotzdem schriftlich die Stellung zu halten? Harry Bergmann zitiert als Antwort einen Eintrag der Israelin Aviva Klompas* auf X: „Zahal verteidigt uns zu Lande, zur See und in der Luft. Und wir müssen auf dem Schlachtfeld der Wissenschaft, der Justiz, der Wirtschaft, der Medien und überall sonst kämpfen. Das heißt, was uns Juden außerhalb von Israel betrifft, die mit dem Kollateralschaden des Gazakriegs, dem brennenden Antisemitismus, konfrontiert sind, müssen auch wir etwas beitragen. Da ich nicht viel anderes kann als schreiben (und auch das nur in einem überschaubaren Ausmaß), ist das meine Form der Wehrhaftigkeit.“

* Aviva Klompas ist eine ehemalige Erzieherin, die als „Redenschreiberin“ für die Ständige Vertretung Israels bei den Vereinten Nationen in New York gearbeitet hat. Die Israelin veröffentlichte zuletzt Speaking for Israel: A Speechwriter Battles Anti-Israel Opinions at the United Nations.

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