Das Zeitalter der Gleichzeitigkeit

Historiker Jeffrey Herf untersucht die Hintergründe für den wachsenden Antisemitismus von unterschiedlichen Seiten und erklärt, weshalb auch Begriffe wie der „historische Kontext“ missbräuchlich verwendet werden.

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Eine Gegnerin der propalästinensischen Proteste an der George Washington University in Washington trägt die israelische Flagge, April 2024.© XCliff Owen/AP/picturedesk.com

WINA: Die Studentenproteste, die in den USA begannen, haben inzwischen Europa erreicht. Junge Menschen demonstrieren gegen Israel und für die Palästinenser in Gaza, mit Slogans, die zum Teil Anstoß erregen. Wie sehen Sie das als Antisemitismusforscher?

Jeffrey Herf: Ich kenne die Lage in Europa nicht so gut, aber in den USA handelt es sich um ein neues Kapitel der Einwanderungspolitik. Der Kern der Protestierenden besteht aus Personen mit nahöstlicher Migrationsgeschichte. Ihre Eltern kommen aus dieser Region, sie selbst sind in den USA aufgewachsen und zur Schule gegangen, sie sprechen perfekt Englisch. Sie fühlen sich wohl damit, eine Kufiya zu tragen, das ist also keine Form von kultureller Aneignung. Ihr Protest mischt sich mit Ideen, die das Ergebnis einer langjährigen Verleumdung Israels in der akademischen Welt sind. Es zeichnet die derzeitigen Proteste in Columbia, Harvard und anderswo aus, dass Leute, die sich selbst als links betrachten, eine Organisation wie die Hamas unterstützen oder zumindest billigend in Kauf nehmen.

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

I Durch Fehlerziehung. Und durch eine nicht geringe Dosis an Antisemitismus. Man muss ein paar Jahrzehnte zurückgehen. Als Israel in den Sechziger- und Siebzigerjahren zu einem Hassobjekt bei den Linken wurde, funktionierte das nach der Logik: Jeder, der Israel attackiert, ist mein Verbündeter. Man vergaß dabei, was genau diese Kritiker glauben und wer genau sie sind. In den USA fand damals in der Gegenkultur eine Verlagerung statt weg vom Protest gegen den Vietnamkrieg, hin zum Kommunismus und zur Unterstützung globaler Revolutionen. Und Israel befand sich in diesem Kampf zwischen dem amerikanischen Imperialismus und der Dritten Welt auf der falschen Seite.

„Es zeichnet die derzeitigen Proteste in Columbia, Harvard
und anderswo aus, dass Leute, die sich selbst als links betrachten, eine Organisation wie die Hamas unterstützen oder zumindest billigend in Kauf nehmen.“
Jeffrey Herf

 

Aber das war ja nicht immer so. Am 17. Mai 1948, drei Tage nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung, nahm die Sowjetunion als erstes Land diplomatische Beziehungen zum jüdischen Staat auf. Israel galt als dekolonialisierter Staat, entstanden nach dem Ende des britischen Mandats.

I Da haben Sie völlig Recht. In meinem Buch Israel’s Moment beschreibe ich, wie Israel in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts außerhalb der arabischen Welt eine Cause célèbre der globalen Linken war. Die Logik von Antikolonialismus, Antifaschismus und Antiimperialismus war: Wir sind Prozionisten. In den USA war zwar der Präsident dem jungen Staat gegenüber wohlgesinnt, nicht aber das Außenministerium. Und als dann im Krieg von 1948 die Zionisten auf militärische Unterstützung angewiesen waren, war es die Tschechoslowakei, die die Waffen lieferte.

Three Faces of Antisemitism: Right, Left and Islamist (Studies in Contemporary Antisemitism) Routledge 2024, £ 25,99, £ 23,39 (eBook)

Warum wandten sich die Sowjetunion und der kommunistische Block später ab?

I Aus Gründen der Machtpolitik. Man war von der gleichen Fehlannahme ausgegangen wie das amerikanische Außenministerium und glaubte, die Zionisten würden mit der Sowjetunion sympathisieren. Es stellte sich dann aber heraus, dass deren Führung nicht prokommunistisch war, aber eben auch nicht unbedingt antikommunistisch. In Ben-Gurions erster Regierung musste nicht nur die kommunistische Partei draußen bleiben, sondern auch die eher prosowjetischen Parteien. Ben-Gurion selbst war ein Sozialdemokrat, wenn man so will, was den Werten der säkularen zionistischen Gesellschaft entsprach. Als dann Stalin begriff, dass Israel genuin neutral oder dann prowestlich sein würde, änderte er seine Haltung. Was folgte, war eine vier Jahrzehnte lange Kampagne, die Israel zum Werkzeug des amerikanischen Imperialismus abstempelte. Das ist völlig lächerlich, wenn man sich die tatsächlichen Sichtweisen der amerikanischen Außenpolitiker George Marshall und George Kennan näher anschaut. Sie hatten Israel im Hinblick.

Der Nahe Osten wurde zum rhetorischen Spielfeld im Kalten Krieg?

I Für die Sowjetunion war diese neue Terminologie ein Weg, um sich bei den arabischen Staaten beliebt zu machen. Eine der Konstanten sowjetischer Politik im Nahen Osten, deren Echo wir heute hören, bildete die Allianz mit reaktionären Regierungen in der arabischen Welt – alles im Namen von Antiimperialismus und Antizionismus. Die DDR-Regierungen unter Walter Ulbricht und Erich Honecker spielten dabei eine führende Rolle. Was man verstehen muss: Die Sowjetunion hat das Prestige ihres Sieges über NaziDeutschland, also das Prestige des Antifaschismus in den Dienst der Attacke gegen Israel gestellt. Dies war der Moment, der die Gegnerschaft zu Israel respektabel gemacht hat.

„[…] die Fakultät in Columbia etwa nannte das Massaker eine ,Militäroperation‘ im Kontext eines andauernden Konflikts
und als Antwort auf Unterdrückung.“

Infolge des Sechstagekriegs von 1967 kam es dann aber zur israelischen Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens. Viele Unterstützer der palästinensischen Sache machten sich seither stark für einen Abzug aus diesen Gebieten.

I Nach dem Sechstagekrieg wandelte sich die ganze Realität. Als die Juden nicht mehr Opfer des Holocausts waren, sondern als Zionisten zur bewaffneten Selbstverteidigung übergingen, wurden sehr alte antisemitische Bilder vom mörderischen und bösen Juden wach. Man sah die Israeli fortan als Aggressoren und die Palästinenser als Opfer. Aber nicht nur als Opfer, sondern auch als revolutionäre Helden.

Beim heute zu hörenden Ruf „Free Palestine – from the river to the sea“ geht es offenbar nicht mehr um die Befreiung der 1967er-Gebiete, sondern um die 1948er-Frage, also um die Existenz Israels an sich. Was ist da passiert?

I Schaut man sich die Pamphlete der PLO seit dem Ende der Sechzigerjahre an, die an deutschen Unis verteilt wurden, so muss man sagen, dass auch sie eindeutig für die Eliminierung des Staates Israel als Ganzes waren. Gleichzeitig beteuerte man, das alles habe nichts mit Antisemitismus zu tun. Die Forderung „From the river to the sea“ ist also tatsächlich gar nicht weit vom Programm der PLO aus diesen Zeiten entfernt. Was die Hamas derzeit so attraktiv macht, ist die Tatsache, dass sie keine Kompromisse eingehen will. Ich bin Historiker, mir geht es um Kontinuitäten und Brüche. Und die Kontinuität hier ist, dass der palästinensische Nationalismus einen Kern hat, der keinen wie auch immer gearteten jüdischen Staat im Nahen Osten toleriert.

Und was ist mit dem Osloer Abkommen von 1993? Das war doch zumindest der Versuch einer gegenseitigen Anerkennung?

I Oslo war die Folge des Zusammenbruchs des Kommunismus in Europa. PLO-Chef Arafat hatte damit die Chance eingebüßt, einen kurzfristigen militärischen Sieg über Israel zu erringen. Er verlor seine Waffenlieferanten, denn die saßen in Moskau und in der inzwischen nicht mehr existierenden DDR. Als es im Jahr 2000 in Camp David die Gelegenheit zu einem Deal mit Israel gab, hat er ihn abgelehnt.

„Es geht hier um Gewohnheiten aus mehr als
70 Jahren, […]. Das beeinflusst auch den Journalismus.“
Jeffrey Herf

Heute ist bei der Ablehnung Israels eine unheilige Allianz zwischen Linken und Islamisten zu beobachten. Wie kam es dazu?

I Durch den Iran und die islamische Revolution von 1979. Das ist die grundlegende Ironie der letzten dreißig Jahre. Wer sich selbst als links bezeichnet, sei es in Europa oder in den Vereinigten Staaten, hielt sich immer sehr zurück, dieses ausgesprochen reaktionäre Regime in Teheran zu kritisieren. Der Enthusiasmus für die Hamas ist ein Ergebnis dieser langfristigen Gewöhnung an die islamistische Ideologie in Teheran. Ich kenne keine anderen Beispiele, wo die Linke sich so emphatisch mit Reaktionärem verbindet, wie es heute im Fall der Hamas geschieht. In gewissen universitären Milieus hieß es schon vor zehn Jahren, dass die Hamas ein Teil der globalen Linken sei. Diese Milieus sehen die Hamas als Befreiungsbewegung an, die sich für die Unterdrückten einsetzt. Dabei hat die Hamas weder etwas mit der Französischen Revolution noch mit dem Marxismus noch dem Sozialismus noch dem Kommunismus zu tun. Ihre Wurzeln sind eine Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis. Die Hamas ist eine Bewegung der extremen Rechten: Ihre Auslegung der Religion ist islamistisch, ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queere, Juden und natürlich über die Demokratie sind eindeutig rechter Natur.

JEFFREY HERF ist emeritierter Geschichtsprofessor an der University
of Maryland und beschäftigt sich mit europäischer Geschichte. Schwerpunkte sind Holocaust und Kalter Krieg – und die Frage, wie sich diese auf den Nahen Osten ausgewirkt haben. Im Herbst erscheint sein Buch Three Faces of Antisemitism: Right,
Left and Islamist auf Deutsch. ©University of Maryland

Ihr neues Buch Drei Gesichter des Antisemitismus bündelt Ihre Essays aus den letzten Jahren, die sich mit den verschiedenen Formen des Antisemitismus befassen, jenem von rechts, von links und von islamistischer Seite. Sie sprechen vom Zeitalter der Gleichzeitigkeit, in dem heute alle drei Formen nebeneinander existieren und sich gegenseitig verstärken. Wie meinen Sie das?

I Dass man in der Lage ist, den Antisemitismus in all seinen Ausdrucksformen zu sehen. Rechter Antisemitismus hat keine intellektuelle Respektabilität in Europa oder in den USA, jener von linken Israel-Gegnern aber schon, weil man dort seit Jahrzehnten darauf beharrt hat, „nur“ antizionistisch zu sein. Das Ergebnis ist eine Pro-Hamas-Linke an den Universitäten, die aus der Geschichte Israels eine intellektuelle Verschwörungstheorie von Unterdrückung und Widerstand, jüdischer Macht und palästinensischem Opfertum gemacht hat. Diese dient als Rechtfertigung für Terror, der gegen Israel gerichtet ist.

Aber die Demonstranten argumentieren doch auch ganz einfach mit Menschenrechten. Und tatsächlich hat der Gazakrieg ja auch sehr viele zivile palästinensische Opfer gefordert?

I Das bringt uns zurück zur Sowjetunion. Die Sprache der Menschenrechte ist seit den Sechzigerjahren gegen Israel mobilisiert worden. Was an den Universitäten heute passiert, ist das Ergebnis einer sehr langen Kampagne, die ihren Anfang in der Weltpolitik hatte. Die stete Erzählung von Israels Menschenrechtsverletzungen wurde allmählich akademisiert in einer Art langem Marsch durch die Institutionen, vor allem in den Nahoststudien. Auf der anderen Seite werden dieselben Fragen der Menschenrechte aber ausgeblendet. Solange Hamas, Hisbollah und Iran Israel angreifen, sind sie auf der Seite des globalen Südens und des Antiimperialismus. Keine der großen Zeitungen hat, soviel ich weiß, die Hamas-Charta von 1988 je in vollem Umfang gedruckt. Ich glaube, viele Menschen, auch solche, die auf Demonstrationen gehen, haben diese niemals gelesen. Woher dieses mangelnde Interesse? Die Hamas versucht ja gar nicht, ihre Absichten zu verbergen.

Klären Sie uns auf. Was steht denn in der Charta?

I Ihre Autoren erklären, der Koran schaffe, wenn man ihn nur richtig verstehe, eine Religion, und zwar den Islam, der im Kern eine Religion von Judenhassern sein müsse. Sie skizzieren die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen im Medina des 7. Jahrhunderts als einen ständigen Versuch von Vertretern des Judentums, den Islam zu zerstören. Natürlich ist das nicht der Islam, aber es ist das, was die Autoren der Charta behaupten. Ihre Interpretation führt im Ergebnis dazu, dass es eine religiöse Pflicht ist, den Staat Israel zu zerstören. Judenhass ist der Organisation in die DNA eingeschrieben. Jeder, der die Hamas unterstützt, ist damit auch ein Antisemit.

Aber die allermeisten Studenten – Sie sagen das ja selbst – haben doch nicht die Hamas-Charta gelesen. Sie sehen einfach täglich die Bilder in den Medien, die das Leid von Kindern in Gaza zeigen.

I Ich weiß nicht, wie das System woanders funktioniert, aber in den USA gelten die großen Universitäten als Eliteschmieden. 95 Prozent der Bewerber werden abgelehnt, die fünf Prozent, die angenommen werden, sind die besten und klügsten. Wenn man aber intelligent genug ist, um an einer solchen Institution angenommen zu werden, kann man sich nicht mit politischer Naivität herausreden. Die richtige Frage stellte der amerikanische Außenminister Blinken: Warum reden die Leute nicht mehr über die Hamas? Keines dieser Kinder würde leiden, all das wäre vorbei, wenn die Hamas sich ergeben würde. Aber niemand geht auf die Straße, um zu fordern, dass die Hamas sich ergibt, um das Leben der Zivilisten in Gaza zu retten.

Das Massaker vom 7. Oktober, heißt es derzeit oft, müsse in seinem historischen Kontext betrachtet werden. Und tatsächlich ist ja der israelisch-palästinensische Konflikt viel älter als die Hamas.

I Aber viele implizieren mit dem „historischen Kontext“ eben auch, dass der 7. Oktober auf die eine oder andere Weise gerechtfertigt sei. Direkt wird es nicht gesagt. Aber die Fakultät in Columbia etwa nannte das Massaker eine „Militäroperation“ im Kontext eines andauernden Konflikts und als Antwort auf Unterdrückung. Der „historische Kontext“ ist eine Verzerrung der Geschichte Israels, die für sieben Jahrzehnte Unterdrückung und Ungerechtigkeit steht, für die Vertreibung der Eingeborenen. Das ist eine falsche Geschichte, aber sie ist omnipräsent in den amerikanischen Universitäten, sie dominiert in den Nahostabteilungen. Autoren wie Edward Said und Rachid Khalidi genießen ein enormes intellektuelles Ansehen. In meiner eigenen Universität in Maryland haben in den Geisteswissenschaften innerhalb der ersten vier Wochen nach dem Massaker 72 Fakultätsmitglieder eine Erklärung unterschrieben, welche die Ereignisse in den historischen Kontext stellen, so wie in Khalidis Buch The Hundred Years’ War on Palestine.

Es geht dabei um die „Nakba“, um die Flucht und Vertreibung der Palästinenser von 1948, die tatsächlich als eine historische Ungerechtigkeit gesehen wird.

I Damit bin ich nicht einverstanden. Ich möchte daran erinnern, dass die palästinensische Führung 1947/48 die Option hatte, einen eigenen Staat zu gründen. Sie hat es abgelehnt, weil sie keine jüdische Souveränität in der Region akzeptierte. Solange es keine palästinensische Intelligenzia gibt, die bereit dazu ist, einen ehrlichen Blick auf die Geschehnisse von damals zu werfen und die Dinge nicht einfach nur als Nakba zu beschreiben, gibt es ein Problem. Palästinensische Führungen haben es bisher immer vermieden, Verantwortung für das eigene Verhalten in der Geschichte zu übernehmen. Sie waren sehr erfolgreich darin, inzwischen nun schon mehrere Generationen von Intellektuellen in Europa und den USA davon zu überzeugen, dass die Palästinenser unschuldig sind und keinerlei Verantwortung dafür tragen, dass dieses kleine Stück Territorium mit so viel Leid überzogen ist. Es geht hier um Gewohnheiten aus mehr als 70 Jahren, konkret um einen palästinensischen Nationalismus, der zu dieser Verweigerung maßgeblich beigetragen hat. Das beeinflusst auch den Journalismus.

Allerdings hat auch die gegenwärtige israelische Regierung Mitglieder, die sich eine Zukunft ohne Palästinenser im Westjordanland wünschen.

I Hätte ich die Gelegenheit, so würde ich zu Regierungschef Netanjahu gerne sagen: Wir sperren uns jetzt zusammen in einen Raum, und ich halte Ihnen einen Vortrag zu Franklin Roosevelt und Winston Churchill. Was haben diese beiden 1940 gemacht? Sie haben breite Koalitionen geschaffen aus Mitte rechts und Mitte links. Es ist lächerlich, dass Netanjahu diese Idioten in seiner Regierung hat. Meine Kollegen in Israel gingen letztes Jahr alle auf die Straße, um gegen diese Regierung und den geplanten Umbau des Justizwesens zu protestieren. Dann geschah der 7. Oktober. Netanjahu sollte zurücktreten und eine neue Regierung die Verantwortung übernehmen.

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