Die Genehmen und die Unangenehmen

Zuerst war das Schweigen vieler Frauenorganisationen zu den brutalen Vergewaltigungen und Frauenmorden der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel. Die Verurteilung des Angriffs Israels auf Gaza als „unverhältnismäßig“ folgte kaum, dass der Krieg Ende Oktober begonnen hatte. Inzwischen ist die Täter-Opfer-Umkehr in der veröffentlichten Meinung wie aus dem Lehrbuch des Antisemitismus vollzogen, wie auch die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel betont. Doch was bedeutet das für Juden und Jüdinnen?

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Wem wird zugehört, wer bekommt Raum? Wessen Aussagen sind unangenehm und wollen nicht mehr gehört werden? In Monat acht nach dem Genozid an Juden und Jüdinnen in Israel, bei dem aber auch Menschen mit anderem religiösen und ethnischen Background, darunter arabische Beduinen oder thailändische Erntehelfer, ermordet wurden, hat sich der Diskurs nicht nur auf Social Media, sondern auch in Kunst, Kultur und Politik in eine aus jüdischer Mehrheitsperspektive immer unangenehmere Richtung verschoben. Klingt verschraubt? Ich erkläre gleich, wie ich das meine.

Die heurige Rede an Europa im Rahmen der Wiener Festwochen wurde vom israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm gehalten. Ort: der Judenplatz. Das Thema: die unantastbare Würde des Menschen mit aktuellen Bezügen zu Israel und Gaza. Boehms Haltung im so genannten Nahostkonflikt ist bekannt: Er spricht sich für einen binationalen Staat aus und ist scharfer Kritiker von Israels Premier Benjamin Netanjahu. Beides ist ihm unbenommen. Beides sind legitime Positionen.

Wo also lag das Problem? Boehms Rede bot schließlich kaum Kontroversielles. Wäre sie ein Jahr zuvor gehalten worden: geschenkt. Bis zum 6. Oktober hätten sich hier wohl auch mehr Mitglieder der Wiener jüdischen Gemeinde eingefunden und applaudiert. Hellhörig ließen mich aber Aussagen wie diese des Festwochen-Intendanten Milo Rau werden: Er meinte im Vorfeld von Boehms Auftritt: „In einer Zeit, die unversöhnlich ist, provoziert der Versöhner.“

„Der Versöhner.“ In dieser Zuschreibung schwingt so viel mit. Das ist, was zunehmend und immer massiver von Juden und Jüdinnen erwartet wird – ob eben am virtuellen Stammtisch, in Zeitungsforen, in der tagespolitischen Auseinandersetzung: Die Forderung, die gehört werden will, ist die nach einem sofortigen Stopp des Krieges. Was sonst noch von Juden und Jüdinnen gehört werden möchte: eine Verurteilung Netanjahus, eine Verurteilung Israels.

Wer die Dimension des 7. Oktober nicht begreift, […] riskiert am Ende global noch mehr Gewalt.

Das führt in der Folge dazu, dass auf dem öffentlichen Parkett, von TV-Talkshows bis eben zu Festivals wie den Wiener Festwochen, vor allem jene Juden und Jüdinnen geladen und gerne gehört werden, die genau diese Bedürfnisse bedienen und mit einstimmen in den Chor der Israel-Kritiker und -Kritikerinnen. Als Beispiel sei die heute in Deutschland lebende US-Autorin Deborah Feldman genannt.

Das führt dazu, dass jene Juden und Jüdinnen, die darauf hinweisen, dass auch eine politisch anders ausgerichtete israelische Regierung das Massaker der Hamas mit einem Krieg gegen die Hamas beantwortet hätte, die sagen, was für eine Zumutung es ist, ständig aufgefordert zu werden, sich von Netanjahu und der aktuellen israelischen Regierung zu distanzieren, in eine Art rechtes Eck geschoben werden. Kriegstreiberisch sei das, militant, das Vorgehen Israels unverhältnismäßig und daher zu verurteilen. Das übrigens zu einem Zeitpunkt, da noch immer nicht alle Geiseln befreit oder freigelassen worden sind.

Es hat etwas von einer Einteilung in „gute Juden“ (jene, die Israel lautstark verurteilen) und „schlechte Juden“ (die Unversöhnlichen, denen es egal ist, wenn Kinder in Gaza sterben). Es gibt also die genehmen und die unangenehmen Juden. Ja, mir wäre Harmonie auch lieber. Aber wer die Dimension des 7. Oktober nicht begreift, wer nicht sehen will, dass dem Islamismus in Gaza, aber auch überall sonst auf der Welt Einhalt geboten werden muss, riskiert am Ende global noch mehr Gewalt, noch mehr Morden, noch mehr Angriffe auf die freie Gesellschaft, wie wir sie im Westen heute kennen. Juden und Jüdinnen sind hier nur die ersten Opfer.

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