„Die jüdischen Jugendlichen suchen verstärkt nach Argumentationshilfen“

Der Antisemitismus habe nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 in Israel sowohl in Breite wie Intensität europaweit zugenommen, konstatiert die stellvertretende Direktorin der Anti-Defamation League für europäische Angelegenheiten, Dalia Grinfeld, im Gespräch mit Marta S. Halpert.

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Dalia Grinfeld. Die junge jüdisch-politische Aktivistin widmet sich täglich dem Kampf für Gerechtigkeit und Teilhabe auf internationaler Ebene. © Sharon Adler

WINA: Sie haben als Vertreterin der Anti-Defamation League* (ADL) an der jüngst in Wien abgehaltenen Antisemitismus-Konferenz des Bundeskanzleramts teilgenommen. Wie sieht Ihr Resümee dieser Veranstaltung aus?

Dalia Grinfeld: Da es sehr wichtig ist, Öffentlichkeit für das Thema Antisemitismus zu schaffen, damit man über Trends und Aktualitäten sprechen kann, war dieses Treffen sehr wertvoll. Denn ohne Öffentlichkeit können wir auch keine Ideen und Meinungen sammeln, wie wir es am besten angehen. Dieser Austausch von aktuellen Erfahrungen ist bei dieser Konferenz gut gelungen. Positiv ist auch die Erkenntnis, dass die österreichische Bundesregierung das Problem des Antisemitismus ernst nimmt, und die dritte Konferenz dieser Art ist auch nur ein Schritt, den sie in einer Reihe von Maßnahmen trifft. Wir konnten nach dem schrecklichen Massaker des 7. Oktober 2023 nicht nur Aktuelles besprechen, sondern uns intensiv mit hochkarätigen Sprechern und Vortragenden austauschen, die alle Expertisen vorweisen können.

Was kann es in der Praxis für den gelebten Alltag bringen?
I Die europäischen und US-amerikanischen Vertretungen erfuhren mehr über die jeweiligen Strategien im Kampf gegen den Antisemitismus, z. B. auch Details aus dem EU-Aktionsplan, denn nur ein koordiniertes Vorgehen in den verschiedenen Regionen bringt uns weiter. Durch das miteinander Reden können wir auch erkennen, was kopierfähig oder adaptierbar für den eigenen lokalen Gebrauch ist. Wo ist der ADL überall vertreten, und wo sind Sie aktiv? I Es gibt in den USA 25 ADL-Büros, in Israel eines und außerdem internationale Mitarbeiter auf ganz Europa verteilt. Ich bin zwar in Berlin ansässig, arbeite aber für ganz Europa.

Haben sich die Schwerpunkte Ihrer Arbeit seit dem 7. Oktober wesentlich verändert?
I Wir haben unsere Arbeit intensivieren müssen, da die Nachfrage insbesondere bei den jüdischen Jugendlichen stark angestiegen ist. Die jungen Erwachsenen suchen Argumentationshilfe, was sie Tachles machen sollten, wenn nicht nur vorwurfsvolle Fragen, sondern anklagende Vorwürfe und Beschuldigungen vorgebracht werden. Da wir bereits in 22 Ländern in Europa das Trainingsprogramm Words to Action (Empowering Students to Address Antisemitism) genau für solche Fälle entwickelt und an rund zweitausend jüdische Erwachsene zwischen 14 und 35 vermittelt haben, sind wir für diese Aufgabe gut aufgestellt. Der Bedarf war unmittelbar zu spüren, weil die Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden gut funktioniert und wir sofort auf die Anfragen mit praktischer Hilfe reagieren konnten. Nach dem 7. Oktober haben wir vier Mal mehr Trainings abgehalten als davor.

Geben Sie uns Beispiele, mit welchen Anwürfen sich die jüdischen Jugendlichen konfrontiert sahen?
I Nicht nur in den Social Media, sondern auch persönlich hat diese Gruppe den Judenhass stärker wahrgenommen, weil sie mit ihrem Zionismus, ihrer jüdischen Identität konfrontiert wurden. Es kam ihnen zu Bewusstsein, dass sie sich wappnen müssen, und das gilt von Bulgarien über Deutschland bis Spanien. Sie müssen sich ständig erklären, daher wollen viele aktiv dagegen arbeiten, das heißt, wenn sie sich nicht verstecken wollen, müssen sie argumentieren können. Daher arbeiten wir gleichzeitig an Bildungsprodukten in Schulen, damit die Schülerinnen und Schüler lernen, was Judentum, aber auch Antisemitismus ist und wie sie gegen Letzteren aufstehen können.

„Ich beobachte, dass junge Jüdinnen und Juden
in ganz
Europa den deutlichen Willen haben,

jüdisches Leben hier aufzubauen.“
Dalia Grinfeld

Das erinnert mich an das europaweite Likrat-Programm.
I Ich kenne Likrat gut, war vor 15 Jahren auch Likratina. Das ist eine wunderbare Sache, ich gratuliere Likrat auch zum Wiesenthal-Preis. Unser Programm ist anders, da es nicht um Begegnung geht, sondern um das digitale Lernen über das diverse jüdische Leben, Antisemitismus und was Schülerinnen und Schüler selbst gegen Antisemitismus machen können. Ein zusätzliches kostenfreies Bildungsprodukt haben wir für den Arbeitsplatz entwickelt: Antisemitismus am Arbeitsplatz 101 (Antisemitism 101 for the Workplace). Hierbei bieten Unternehmen ihren Beschäftigen an, sich über jüdisches Leben und Antisemitismus weiterzubilden.

An den deutschen Universitäten waren die anti-israelischen Proteste weniger heftig als an den Hochschulen in den USA.
I Die Belagerungen an den Hochschulen waren sehr lautstark, und die anti-israelischen und pro-palästinensischen Stimmen waren an mindestens acht Hochschulen landesweit sehr heftig – und diese Proteste finden noch immer statt. In den USA ist Rede – inklusive Hassrede bis zum Grad der Androhung gegen die körperliche Versehrtheit – aufgrund der Meinungsfreiheit geschützt. Dadurch ist auch die Verharmlosung und Verleugnung der Shoah juristisch gestattet, während dies in Deutschland verboten ist. Die Belagerungen waren an einigen deutschen Universitäten rechtswidrig und wurden aufgelöst.

In Berlin gibt es sehr große türkische und arabische Gemeinschaften. Haben sich die verbalen, aber auch die körperlichen Angriffe verstärkt?
I Ich versuche, auf Daten zurückzugreifen, nicht anekdotisch zu erzählen: Der Bundesverband RIAS e.V., dessen Hauptzweck die Erfassung antisemitischer Vorfälle in Deutschland ist, hat in seinem Monitoringbericht im Zeitraum vom 7. Oktober bis zum 9. November 2023 in den regionalen Meldestellen 29 Vorfälle pro Tag verzeichnet. RIAS hat sämtliche 994 antisemitischen Vorfälle verifiziert, die sich im Kontext der Massaker der Hamas und des Kriegs in Israel und Gaza ereigneten. Darunter sind drei Fälle extremer Gewalt, 29 tätliche Angriffe, 72 gezielte Sachbeschädigungen, 32 Bedrohungen und 854 Fälle verletzenden Verhaltens. Allein in der Woche von 7. bis 15. Oktober gab es 202 Vorfälle: Der Vergleich mit dem Jahr 2022 zeigt einen Zuwachs um mindestens 240 Prozent. Damit ist klar, dass der Antisemitismus in Breite und Intensität zugenommen hat.

Was sind jetzt Ihre vordringlichsten Aufgaben?
I Wir haben ein neues Projekt gestartet, um dem erhöhten Bedarf an Zusammenarbeit der größten jüdischen Gemeinden weltweit zu begegnen. Es heißt J7 – The Large Communities’ Task Force Against Antisemitism und vereint die wichtigsten jüdischen Gemeinden in den USA, Kanada, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Argentinien und Australien, die bereits Arbeitsgruppen mit Experten aus Erziehung und Extremismus gebildet haben. Zusätzlich entstand noch die J7 Student Working Group, die Führungskräfte der jüdischen Studierendenorganisationen vereint und sich zum Ziel gesetzt hat, aktiv und präventiv gegen Antisemitismus in Universitäten vorzugehen.

Wie sehen Sie die Zukunft der jüdischen Jugend in Deutschland, in Europa insgesamt?
I Ich beobachte, dass junge Jüdinnen und Juden in ganz Europa den deutlichen Willen haben, jüdisches Leben hier aufzubauen. Daher gilt es, Möglichkeiten zu schaffen, damit diese jungen Menschen nicht nur gefragt werden, was sie brauchen, sondern aktiv mitgestalten und eigene Entscheidungen treffen können. Die Jugendlichen muss man in ihren Bemühungen unterstützen, denn sie sind es, die mit ihrer Inspiration und positiver Grundstimmung die jüdischen Gemeinschaften weiterbringen werden.

Eine große Zahl an jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion frischt die Gemeinden vor allem in Deutschland auf. Sehen die das auch positiv?
I Ich glaube, dass die sowjetischen Jüdinnen und Juden viel vorangetrieben haben, weil sie auch das Privileg der Demokratie verstehen. Sie wollen genauso wie ich ein diverses, pluralistisches und intensives jüdisches Leben in Deutschland führen, deshalb engagieren sie sich auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene.

 

* Die Anti-Defamation League (ADL) ist eine amerikanische Organisation mit Sitz in New York City, die gegen Diskriminierung und Diffamierung von Jüdinnen und Juden auftritt.

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