„Die neuen Medikamente sind eine Revolution“

Im Buch Schlank auf Rezept erklären der Internist Siegfried Meryn und die Stoffwechselexpertin Bianca-Karla Itariu interessierten medizinischen Laien, wie die neuen Abnehmmedikamente funktionieren. WINA bat Meryn, der auch mehrere Gesundheitsformate im ORF-Fernsehen hostet, zum Gespräch.

894
SIEGFRIED MERYN, geb. 1954 in Wien, ist Internist. Schwerpunkte seiner ärztlichen Tätigkeit sind vor allem die Gastroenterologie, die Hepatologie und Koloskopie sowie krankhaftes Übergewicht (Adipositas) und die Diagnose sowie Therapie von Long Covid. Meryn ist dem ORFTV-Publikum als Gastgeber von Gesundheitsformaten bekannt und Autor zahlreicher Bücher, die medizinisches Wissen für interessierte Laien vermitteln. © Zach-Kiesling

WINA: Der Untertitel Ihres Buches lautet Wir sind nicht allein schuld an unserem Übergewicht. Können Sie das erläutern?

Siegfried Meryn: Die neuesten Ergebnisse der Abnehmmedizin, einer Disziplin, die sich in den letzten zehn Jahren wissenschaftlich etabliert hat, zeigen folgende Erkenntnisse, die leider noch immer von der Ärzteschaft, aber auch zum Teil von der Bevölkerung so nicht wahrgenommen werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat vor rund zehn Jahren eine klare Definition vorgenommen, und die lautet: Adipositas ist eine chronische, multifaktorielle Krankheit. In diesem kurzen Satz steckt alles drinnen: das Wort chronisch, das Wort multifaktoriell und das Wort Krankheit. Von daher abgeleitet ist die Antwort zu sehen. Es gibt einerseits eine klare genetische Belastung. 70 Prozent nicht nur meines Gewichts, sondern auch meiner Körperzusammensetzung ist in den Genen festgelegt.

Es gibt aber natürlich auch soziokulturelle Einflüsse, wie welche Bedeutung hatte das Essen zu Hause? Das kennt man auch aus jüdischen Familien, diese Frage, „Du hast nicht aufgegessen – schmeckt es dir nicht?“ Und das bedeutet dann: „Hast du mich nicht lieb?“ Das führt natürlich zu Fehlverhalten beim Essen. Der dritte Punkt: Wir leben in einer adipogenen Welt. Es wird alles getan, um uns gewichtsmäßig zu verführen. Und unser Essen ist ungesünder denn je. Die Nährstoffdichte in dem, was wir essen, ist so hoch wie nie zuvor: so süß, so kalorienreich, so fett. Wenn das die Ernährung ist, die uns im Supermarkt oder im Restaurant angeboten wird und ich mich von klein auf so ernähre, sind alle Konstellationen gegeben, damit wir als Gesellschaft übergewichtig werden.

Siegfried Meryn/Bianca-Karla Itariu: Schlank auf Rezept.
edition a 2023, 352 S., € 25

Ich sage: Übergewicht ist das neue Rauchen. Das Problem des 20. Jahrhunderts, das Rauchen, wird nun das Übergewicht. Wir werden zum fetten Planeten. Wir haben so viele übergewichtige Volksschul- und Mittelschulkinder wie noch nie, so viele übergewichtige 18-Jährige bei der Stellungsuntersuchung für das Bundesheer wie noch nie. Laut Voraussagen wird im Jahr 2035 etwa die Hälfte der Weltbevölkerung, das sind rund vier Milliarden Menschen, übergewichtig sein.

Es gibt nun eine neue Generation von Abnehmmedikamenten, oft als „die Abnehmspritze“ bezeichnet. Wo und wie wirken diese Arzneimittel?
I Wir haben bis vor Kurzem nur wenige wirkungsvolle Medikamente gehabt, leider mit extremen Nebenwirkungen, weswegen sie wieder vom Markt genommen wurden. Deren unterstützender Effekt lag – gemeinsam mit einer Diät – bei drei, vier Kilo Abnahme. Die neuen Medikamente sind hier wirklich eine Revolution. Das sind Substanzen, die von uns selbst in unserem Dünndarm gebildet werden. Das sind Polypetide, wir nennen sie Inkretine.

Im Dünndarm gibt es die so genannten K-Zellen. Wenn wir Kohlehydrate essen, schütten diese Zellen GLP-1 aus, die wiederum die Bauchspeicheldrüse aktivieren, damit Insulin ausgeschüttet wird, das den Zucker senkt. Da wir nicht 24 Stunden essen, haben diese Polypeptide nur eine sehr kurze Halbwertszeit und wirken nur wenige Minuten. Was den Forschern nun gelungen ist, ist, diese Inkretine zu sequenzieren und nachzubauen, wobei nur wenige Aminosäuren verändert wurden. Diese erste Stufe führte zum Wirkstoff Liraglutid. Dieser wirkt statt nur wenige Minuten 24 Stunden und senkt in dieser Zeit den Zucker, bremst die Magenentleerung und hemmt das Appetitverhalten. Das war der erste Erfolg.

„Das kennt man auch aus jüdischen Familien, diese Fra­ge:
,Du hast nicht aufgeges­sen – schmeckt es dir nicht?

Siegfried Meryn

Dann wurde an diesen Strukturen weiter gearbeitet, und man hat es geschafft, durch weitere Veränderungen eine Wirkdauer nicht nur von 24 Stunden, sondern von sieben Tagen zu erreichen. Das ist nun der Wirkstoff Semaglutid. Diese Präparate sind so wirkungsvoll, dass ich sieben Tage eine verlangsamte Magenentleerung, ein völlig verändertes Appetitverhalten habe, nämlich ein erhöhtes Sättigungsgefühl und den Verlust von Heißhunger. Das ist aber erst der Beginn der Revolution, denn mittlerweile gibt es bereits Präparate auf dem Markt, die ein duales Wirkungsprinzip aufweisen, die also eine zweite Substanz – diese heißt GIP – enthalten und noch wirksamer sind. Und Studien arbeiten bereits mit Medikamenten mit drei Wirkstoffen, die auch auf den Fettstoffwechsel wirken. Wir sind also erst im Kapitel zwei eines Buches, das sich sehr spannend liest.

Bedeutet das, dass Menschen, die stark übergewichtig sind, dieses Hormon im Dünndarm fehlt?
I Nein. Diese Inkretine wirken aber nur sehr kurz. Die Aufgabe dieses Hormons ist es ja nicht abzunehmen. Die Aufgabe des Hormons ist es, den Zucker zu senken und für ein Sättigungsgefühl zu sorgen. Durch die strukturellen Veränderungen einiger Aminosäuren wird nun nur eine längere Wirkdauer erreicht. Was man inzwischen allerdings auch weiß, ist, dass diese Inkretine durch die Blut-Hirn-Schranke gehen, was nicht alle Substanzen machen. Im Gehirn sitzt – sehr vereinfacht dargestellt – das Hungerzentrum. Das Hormon Ghrelin meldet diesem Zentrum, dass ich etwas essen muss, daraufhin knurrt der Magen und signalisiert, Hilfe, ich habe Hunger, was gibt es zu essen?

Auf der anderen Seite gibt es das Sättigungszentrum. Einige Inkretine bewirken dann, dass ich vor meinem selbst gekochten Abendessen sitze, das ich sehr gerne habe und das gut riecht und fein ausschaut, aber ich nach dem fünften, sechsten Bissen spüre, ich bin satt, ich habe keinen Hunger mehr, ich mag gar nicht weiter essen.

„Meine Kritik richtet sich aber auch gegen die Her­steller, die mit Patentrege­lungen versu­chen, so lange wie möglich ein Monopol aufrechtzuer­ halten.“
Siegfried Meryn

Experten reden hier angesichts von Medikamenten wie Saxenda, Ozempic oder Mounjaro auch oft von Gamechangern. Sehen Sie das auch so?
I Ja. Wenn wir uns Studien ansehen, solche mit Diabetikern und mit Nichtdiabetikern, dann liegt der durchschnittliche Gewichtsverlust mit GLP-1-Rezeptoren bei zehn bis 15 Prozent des Ausgangsgewichts innerhalb eines Jahres. Mit dem dualen Wirkungsstoff, der in Österreich allerdings noch nicht erhältlich ist, liegt der Wert noch fünf Prozent höher.

Berichte, vor allem in Boulevardmedien, vermitteln: Iss weiter, was du möchtest, die Spritze wird das regeln. Sie betonen in Ihrem Buch, dass dem nicht so ist. I Das Medikament ist nicht Schritt eins – es ist Schritt drei. Schritt eins ist eine Ernährungsumstellung, Schritt zwei die Steigerung der körperlichen Aktivität. Die Spritze allein wirkt ohne eine Lebensstiländerung, wenn überhaupt, nur kurz. Das sieht man auch bei Prominenten, die mit dem Medikament in acht Wochen für einen Anlass das Gewicht runterschmelzen und drei Monate später dort sind, wo sie vor der Spritze waren. Das ist nichts anderes als der Jo-Jo-Effekt, den jeder kennt, der schon einmal eine Diät gemacht hat, egal welche, von Paleo bis zur Brigitte-Diät, von Metabolic Balance bis 8/16-Intervallfasten. Mit jeder Reduktion der Kalorien nimmt man ab. Hört man aber mit dieser Lebensweise wieder auf und kehrt zu den ursprünglichen Essgewohnheiten zurück, darf man sich nicht wundern, dass man wieder zunimmt.

Man muss den Lebensstil ändern. Meinen Patienten sage ich immer: Stellen Sie sich vor, ich lade Sie auf eine griechische Insel oder in den Süden Italiens ein. Dort gehen Sie auf dem Markt anders einkaufen. Sie essen dann einen herrlichen Salat als Vorspeise, mit Olivenöl, und als Hauptspeise einen Fisch mit Gemüse als Beilage. Das ist die Umstellung, die Sie brauchen.

Der Schlüssel ist: Weg vom österreichischen Essen hin zu einer mediterranen Kost. Die ist kalorienärmer und gesünder. Die führt auch zu einer erhöhten Lebensdauer. Die Spritze zu nehmen und weiter zu essen wie bisher, ist Schwachsinn, der viel Geld kostet und zur Frustration führt.

Inzwischen zeigen Studien, dass Patienten, die mit den neuen Medikamenten erfolgreich und viel abgenommen haben, diese auch weiterhin nehmen müssen, um das Gewicht zu halten. Betrifft das alle Adipositas-Patienten oder nur einen Teil?
I Es hängt davon ab, wie erfolgreich ich meinen Lebensstil geändert habe. Das wissenschaftliche Denkmodell dazu ist die Setting-Point-Theorie. In meinem Kopf habe ich ein Zentrum, das wie ein Thermostat in einem Zimmer funktioniert. Das Gewicht, das ich habe, finde ich vielleicht nicht in Ordnung, aber mein Körper findet es in Ordnung. Mein Körper sagt: wunderbare Reserven. Als Jäger wussten wir nach einer erfolgreichen Jagd nicht, wann es das nächste Mal Beute geben wird. In einem Tag? In fünf Tagen? In zehn Tagen? Daher lagert der Körper Reserven in Form von Fett ein – und wehrt sich dann gegen den Verlust. Heute leben wir aber in einer übersättigten, überfressenen Gesellschaft. Ich kann 24 Stunden am Tag zu einer Tankstelle fahren und mir Chips kaufen.

Wenn der Thermostat in meinem Zimmer auf 22 Grad eigestellt ist und mir ist zu warm, reiße ich das Fenster auf. Draußen hat es null Grad, es kühlt auch innen ab, und ich bin happy. Ich schließe das Fenster, und am Morgen hat es wieder 22 Grad. Der Körper funktioniert ähnlich. Ich mache eine Diät und nehme ab. Habe ich mein Zielgewicht erreicht, ist der Setting Point aber noch anders eingestellt. Tierstudien zeigen, dass es mindestens 18 bis 24 Monate dauert, bis der Körper das tiefere Gewicht auch annimmt.

Ich darf hier an den Beginn dieses Gesprächs erinnern: Die Weltgesundheitsorganisation sagt, Adipositas ist eine chronische Erkrankung. Ich würde ja auch nicht auf die Idee kommen, einem Diabetiker seine Diabetes-Medikamente wegzunehmen oder einem Blutdruckpatienten seine Blutdruckmedikamente. Das Gleiche gilt hier.
I Ich habe weit über 1.000 Patienten, die ich betreue und sehe, dass es einige wenige gibt, die sehr konsequent ihren Lebensstil geändert haben, auch weiterhin anders essen und körperlich aktiv sind. Ihnen gelingt es, mit drei, vier Kilo Gewichtszunahme nach Absetzen des Medikaments dieses Gewicht zu halten. Die meisten aber beginnen, nicht mehr so streng zu sich zu sein, und das Gewicht steigt wieder an. Da muss man dann schauen, ob man mit einer niedrigeren Erhaltungsdosis weitermacht beziehungsweise eine individuelle sogenannte On-Off-Therapieanpassung durchführt. Das ist individuell von Patient zu Patient sehr unterschiedlich und hängt auch davon ab, wie hoch die genetische Belastung ist.

Der jüdische Jahreskreislauf ist stark geprägt von Festen und speziellen Speisen. Wie kann man zu Pessach und an anderen Feiertagen, aber auch bei Schabbes-Einladungen, Hochzeiten oder Bar- und Bat-Mitzwa-Feiern agieren, um nicht zu viele Kalorien zu sich zu nehmen?
I Ich sage meinen Patienten, ob jüdisch oder nicht jüdisch, immer das Gleiche: Sie müssen Ihren Lebensstil ändern und sich 340 von 365 Tagen daran halten. Die Ausnahmen sind Feiertage und Familienfeste. Ich kann aber auch an Feiertagen gesund essen. Ich muss ja kein Gebäck nehmen. Ich kann zu Pessach auf die Mazzeknödel in der Suppe verzichten.

Es gibt grundsätzlich zwei Schrauben, an denen ich drehen kann – die verminderte Kalorienzufuhr und die Steigerung des Kalorienverbrauchs durch körperliche Aktivität. Ich kann ein etwas Zuviel an Kalorien an einem Feiertag also auch kompensieren, indem ich körperlich mehr mache, insbesondere Muskelarbeit. Das braucht es übrigens grundsätzlich: Krafttraining, um beim Abnehmen nicht an Muskelmasse zu verlieren.

Die Abnehmmedikamente wirken, es gibt aber derzeit einen großen Haken: Das sind die Kosten. Während Diabetiker die Spritze von den Krankenkassen finanziert bekommen, müssen Adipositas-Patienten selbst dafür bezahlen. Die Kosten variieren je nach Dosierung und beginnen in Österreich bei etwas über 140 Euro pro Monat. Finden Sie es richtig, dass die Krankenkassen hier bei Adipositas-Patientinnen nichts übernehmen?
I Klare Antwort: nein. Die Österreichische Gesellschaft für Adipositas hat im November neue Leitlinien erstellt. Die sind auch an die Österreichische Gesundheitskasse gegangen, werden aber ignoriert. In den Leitlinien wird festgehalten, dass ein übergewichtiger Mensch, der oft auch eine Reihe von anderen Erkrankungen hat, genauso das Recht hat, das Medikament zu bekommen wie ein Diabetiker. Wenn ich übergewichtig bin, hohe Blutfettwerte habe, vielleicht bereits einen Schlaganfall oder Herzinfarkt hatte: Bin ich ein schlechterer Patient als ein Diabetiker? Nein, in meinen Augen nicht.

Meine Kritik richtet sich aber auch gegen die Hersteller, die mit Patentregelungen versuchen, so lange wie möglich ein Monopol aufrechtzuerhalten, und Preise verlangen, die nicht gerechtfertigt sind. Wenn man sich die Preisgestaltung in den einzelnen Ländern ansieht, gibt es Preisunterschiede von 500 und mehr Prozent. Wie gibt es denn das? Ich wäre dafür, dass es hier bald Generika gibt, die kostengünstiger sind, damit wesentlich mehr Menschen die Möglichkeit haben, diese Therapie zu bekommen. Ich habe das auch schon oft in der Öffentlichkeit gesagt, nicht zur Freude der pharmazeutischen Industrie.


 

Abnehmmedikamente auf dem österreichischen Markt:

WIRKSTOFF LIRAGLUTID: hierzulande als Saxenda erhältlich, das täglich gespritzt werden muss. Das Medikament ist offiziell allerdings nur für Diabetiker zugelassen und wird off label auf Privatrezept zum Abnehmen verschrieben. Hersteller: Novo Nordisk

WIRKSTOFF SEMAGLUTID:
ist in Österreich als Ozempic für Diabetiker zugelassen und wird privat auch zur Abnahme – wiederum off label – verschrieben. Dieses Präparat wird nur einmal in der Woche gespritzt. Bei immer wiederkehrenden Engpässen geben viele Apotheken das Medikament allerdings nicht an Adipositas-Patienten ab. Der Hersteller auch dieses Präparats ist Novo Nordisk, das denselben Wirkstoff in höherer Dosierung als Wegovy verkauft. Hier gab es in Österreich zwar noch keine offizielle Markteinführung, das Präparat ist in Apotheken über einen Pharmahändler, der es importiert, aber bereits auf Privatrezept erhältlich.

WIRKSTOFF TIRZEPATID:
entwickelt von Eli Lilly, wird unter dem Namen Mounjaro vertrieben. Derzeit in Österreich noch nicht erhältlich, die Markteinführung soll aber noch dieses Jahr erfolgen. Auch dieses Präparat wird einmal wöchentlich verabreicht. Mounjaro ist sowohl für Diabetiker wie auch für Adipositas-Patienten zugelassen.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here