Eshkol Nevo: Trügerische Anziehung. Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch. dtv 2024. 291 S., € 24,70

Dichter Nebel am Camino de la Muerte in den bolivianischen Anden. Ein junges Paar auf Hochzeitsreise hat sich eine Radtour auf dieser Straße des Todes vorgenommen. Zurück kehrt nur die Frau – als Witwe. Was geschah und wer hat’s gesehen?

Möglicherweise Omri, der seinen beiden israelischen Landsleuten heimlich gefolgt ist. Kennengelernt hat er den verschlossenen Ronen und dessen attraktive Ehefrau Mor kurz davor in La Paz, und nur wenig später überrascht die frisch verheiratete Mor den frisch geschiedenen Omri des nachts in seinem Hostel. In Israel sehen die beiden einander wieder, bei der Schiwa für Ronen, und die Fatal Attraction nimmt ihren unglückseligen Lauf.

Auf seltsame Weise angezogen von seiner jungen Kollegin Liat ist der um seine verstorbene Frau trauernde Arzt Dr. Caro. Sind es väterliche Gefühle, ist es unbewusstes Begehren? Nur Trost will die von einem Liebhaber Verlassene beim viel älteren Witwer gesucht haben, doch der, so klagt sie an, habe sie „sexuell belästigt“.

Beim samstäglichen Spaziergang eines Paares in einer Obstplantage verschwindet der Ehemann spurlos zwischen den Bäumen. War es Selbstmord, war es Mord, und wo ist Ofers Leiche? Seine verzweifelte Frau Chelli, die selbst in Verdacht der ermittelnden Inspektorin gerät, gibt die Hoffnung und ihre Spurensuche nicht auf.

„Über die Wahrheit
sollten wir uns einig sein
[…], selbst wenn wir beschließen,
vor Gericht zu lügen.“

Geständnisse. Wie schon in Nevos Buch Über uns sind es auch dieses Mal drei nur sehr locker verknüpfte Episoden, Liebesgeschichten mit thrillerartigen Spannungsbögen, die hier als „Roman“ präsentiert werden. Jeweils von einem Ich erzählt, kreisen sie um Menschen, gezeichnet von Verlusten, Menschen auf der Suche nach Wahrheit, die schmerzlich mit Schuld und Verantwortung einhergeht. Anwälte, Gerichte, Ermittler kommen ihr nicht auf den Grund.

„Über die Wahrheit sollten wir uns einig sein, sagt mein Anwalt, selbst wenn wir beschließen, vor Gericht zu lügen“, gibt der erste Satz den Auftakt. Welche Version der Geschehnisse kommt den Tatsachen am nächsten, was können wir glauben, was können wir wissen von den anderen, und was verbergen wir vor uns selbst? Fragen wie diese kennzeichnen nahezu alle Werke des israelischen Bestseller-Autors, dessen semiautobiografischer Band bezeichnenderweise Die Wahrheit ist hieß.

Nein, die Wahrheit ist nicht zu fassen, ist unfassbar, so sein unausgesprochenes Resümee. Seine Protagonist:innen, Männer wie Frauen, leiden unter einer Art Geständniszwang, wollen ihre Wahrheiten loswerden, wollen beichten und vielleicht sogar büßen. Religion spielt dabei keine Rolle, sind doch Nevos Bücher durchwegs im Milieu einer säkularen, weltoffenen Gesellschaft angesiedelt, zu der fallweise auch einzelne Ausbrecher aus der Orthodoxie dazustoßen. Wie etwa der später abgängige Ofer, der andere Aussteiger im Verein „Sanfte Landung“ unterstützt, oder Mor, die in ihrer ultraorthodoxen Familie Moriah hieß.

„Es war das erste Mal, dass ich in der Zeitung das Foto von einem sah, den ich kannte – und der tot war.“ – Sätze wie dieser verweisen die Entstehungszeit des Erzählbandes in eine Zeit vor dem Schicksalstag des 7. Oktober 2023. Nun ist Nevo, wie er sagt, nahezu täglich mit derartigen Schreckensmeldungen konfrontiert. Und auch der finale Showdown, ein entfesselter Rave-Event im Obstgarten, kann heute auch nicht mehr ohne gespenstische Assoziationen an das fatale Super-Nova-Festival gelesen werden.

„Als ich diese Szene 2020 schrieb, dachte ich an die unschuldigen Partys, an denen ich als Jugendlicher teilgenommen habe. Doch seit dem 7. Oktober bekommt diese Szene eine völlig neue Bedeutung“, erzählt Eshkol Nevo in einem Interview. Die Zeit der Unschuld ist vorbei.

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