Ein talentierter Tausendsassa mit nur 20 Jahren

Lior Gabriel, der deutsch-israelische Absolvent der Modeschule Hetzendorf, gewann den Wettbewerb für die neue Kleidung der Wiener Bestattung.

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Multiausnahmetalent Lior Gabriel. Der Münchner mit israelischen Wurzeln hat soeben seine Ausbildung zum Modedesigner in Wien beendet. Nun zieht es ihn nach Berlin. © Reinhard Engel

Mit farbenfrohen Outfits aus bedrucktem, schwerem Stoff schreiten sechs Frauen und fünf Männer in den Kreationen von Lior Gabriel über den sonnigen Laufsteg im Garten der Modeschule Hetzendorf in Wien-Hietzing. Die fantasievollen Mäntel, Hosen und Oberteile ergeben ein harmonisches Gesamtbild seiner durchkomponierten, ausgetüftelten Kollektion, die er zum Abschluss seiner fünfjährigen Ausbildung hier präsentiert. Fragt man den neugebackenen Modedesigner, was von den Modellen tragbar wäre, lacht er über das ganze Gesicht: „Für eine Modenschau muss man vor allem flashy sein, also auffallen!“

Mit knapp 15 Jahren kam er allein nach Wien, weil er hier an der Modeschule Hetzendorf studieren wollte, nachdem ihm eine Freundin von dieser Ausbildungsstätte vorgeschwärmt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon zwei Jahre gemalt, Poesie geschrieben und Musik komponiert – all das auch zu sehen auf liorgabriel.com –, daher wäre die Bezeichnung Wunderkind in diesem Fall eine starke Untertreibung. Denn wenn man sich bemüht, seine vielen Talente auseinander- und wieder zusammenzuklauben, sagt Lior Gabriel einfach: „Ich habe Platz für alles“ – dann blickt man erstaunt auf den schlanken jungen Mann, der am 02.04.2004 um 2:04 in München geboren wurde – und das nur, weil seine israelische Familie kurz zuvor nach Deutschland übersiedelt war.

„Geld und Auszeichnung sind nicht so wichtig. Dass meine Entwürfe umgesetzt werden, ist mir mehr wert als alles.“
Lior Gabriel

Meine Eltern wurden beide noch in der Sowjetunion geboren, lernten sich aber in Israel kennen, wo sie beide ein Freiwilligenjahr absolvierten.“ Sein Vater war später Verkaufsdirektor in einer großen Hightech-Firma, die ihm sehr bald die Leitung für Europa übertrug. „Er konnte zwischen London und München wählen, aber da man unseren großen Hund nicht nach England ließ, wurde es Deutschland“, lacht der Charmeur. Sein Affinität zu Mode und Farbe entdeckte er sehr früh, nicht zuletzt, weil seine Mutter, Elena Grätz, als erfolgreiche Modedesignerin arbeitete, u. a. auch für Escada. „Damit und mit der Kostümausstattung von Filmen hörte sie auf, als sie merkte, dass sie mit mir schwanger ist“, erzählt Lior.

Er selbst besuchte die Sinai-Grundschule der Israelitischen Kultusgemeinde in seiner Geburtsstadt. Lior Gabriel war so entschlossen, seiner Leidenschaft, dem Modestudium, nachzugehen, dass er mit knapp fünfzehn Jahren in Wien in ein Wohnheim zog und sich gleich zur Aufnahmsprüfung in Hetzendorf anmeldete. „Am meisten ist die Kreativität gefragt, daher zeigt man eine Mappe mit 20 bis 30 Arbeiten und absolviert eine sechsstündige Aufnahmsprüfung mit sehr unterschiedlichen Aufgaben. Danach folgten ein Auswahlverfahren und ein Gespräch mit der Direktorin der Schule“, plaudert Lior aus seinem modischen Nähkästchen. Ein Beispiel aus der Mappe? „Ich habe eine große Collage von der berühmten 600-Stufen-Treppe in Santorin (Vulkaninsel in der Ägäis) gemacht und meine Models dort hinunterlaufen lassen.“

Vorbild William Blake. Mit mehreren Wettbewerbspreisen und seinem OnlineShop sowie Eltern, die ihn unterstützen („meine echt jüdische Mamme hat immer an mich geglaubt“), kann der Vielseitige sein fünfjähriges Studium in Wien finanzieren. Die Modeschule Hetzendorf verlangt kein Schulgeld, aber man muss Beiträge für die einzelnen Werkstätten zahlen, auch für alles Material, das man für seine Kreationen benötigt. „Im ersten Jahr war es schön, weil wir Farbkomposition, Grafikdesign sowie figurative Arbeiten auf Papier und den Umgang mit Textilien und Stoffen erlernten. Besonders spannend war es, eigene Ideen dreidimensional auf den Raum zu übersetzen.“ Erst im zweiten Jahr muss man sich spezialisieren, sich also zwischen Strickdesign, Textil, Hüten, Taschen oder Kleidermachen entscheiden.

Lior Gabriel hatte sich für Bekleidung entschieden, so präsentierte er im Abschlussjahr 2024 seine eigene Kollektion mit elf Entwürfen. „Ich habe mir William Blake* als Vorbild ausgewählt und auch eine Arbeit über ihn geschrieben. Jeder schöpferische Mensch findet sich sozusagen künstlerische Vorfahren, die ihn durch Fantasie beflügeln, sein Schaffen beeinflussen. Ich hatte bei Blake das Gefühl, einen Großvater zu treffen, einen Mann voller Visionen, und ihm verdanke ich meine Inspiration.“

© Reinhard Engel

Der aufstrebende Modeschöpfer hat für seine Kollektion extra Stoffe aus England bestellt, die er selbst mit seinen Motiven digital bedruckte. „Die Hüte habe ich von den Modisten machen lassen, aber den Schmuck habe ich selbst gefertigt.“ Also noch ein zusätzliches Talent. Sein Diplom hat er schon vor einem halben Jahr geschafft, unter anderem mit dem Nähen einer Jacke in 24 Stunden, und zwar komplett. Bereits seit zwei Jahren schreibt Lior auch an der Novelle Rodil über eine extravagante Stadt, in der er außergewöhnliche, manchmal auch verrückte Charaktere schildert. Bald hat er Zeit, dieses Werk abzuschließen.

„Geld und Auszeichnung sind nicht so wichtig. Dass meine Entwürfe umgesetzt werden, ist mir mehr wert als alles“, tönt es fast pathetisch aus dem Mund des jungen Mannes. Die Rede ist von einem Kooperationsprojekt der Modeschule Hetzendorf mit der Bestattung Wien am Zentralfriedhof. Sechzig Personen haben ihre Entwürfe für die neue Kleidung der Talare für die Friedhofsbediensteten eingereicht, darunter Sarg- und Blumenträger. Lior Gabriel schaffte es unter die letzten drei – und gewann schließlich den Wettbewerb. „Wir waren dort und haben uns angehört, was die Angestellten der Bestattung für ihre Arbeit brauchen, z. B. welche Innen- und Außentaschen“, schildert er die Anforderungen.„Ich musste mich bei der Präsentation vorstellen und auch eine Rede halten. Ich habe erzählt, dass ich die Gräber von Arnold Schönberg, Falco und Fritz Muliar besucht habe, mit meinen Entwürfen alle Religionen ehren möchte, z. B. mit dem symbolischen Dreieck, dem Davidstern im Judentum, der Dreifaltigkeit im Christentum“, so Lior, der bei Gemeinderabbiner Shlomo Hofmeister auch TalmudLehrstunden frequentiert.

Jetzt aber fährt er Richtung München zu seiner Familie, und beruflich plant er, in Berlin weiterzumachen: „Meine Mutter ist enttäuscht und besorgt, dass ich nach Berlin weiterziehen werde. Sie bat mich inständig, keine Mesusa auf die Eingangstür zu geben: ‚Drinnen in den Zimmern schon, aber nicht draußen, wo man es sehen kann‘ — so weit sind wir schon wieder …“

* William Blake (1757–1827) war ein englischer Dichter, Naturmystiker und Maler sowie der Erfinder der Reliefradierung.

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