WINA: Sie sind, wie Sie selbst sagten, mit diesem Film ein Wagnis eingegangen, haben gleichsam einen Tabubruch begangen. Was war da das Risiko und was das Tabu?

Joachim A. Lang: Das Risiko war, auf die Täter-Perspektive der führenden Nazis einzugehen. Wir haben uns daran gewöhnt, Hitler und Goebbels als plakative Dämonen vorgeführt zu bekommen, also als jemanden, von dem man sich bequem distanzieren kann. Ich halte diese Darstellung für falsch, vor allem erklärt sie nicht, warum unsere Eltern und Großeltern diesen Typen weitgehend gefolgt sind. Ich möchte sie als Menschen und gleichzeitig als größte Verbrecher der Menschheitsgeschichte zeigen. Ich stehe da in einer Tradition von Thomas Mann bis Margot Friedländer, die sagen, Menschen haben das getan. Wenn das Menschen gemacht haben, dann können es auch Menschen verhindern, und darauf kommt es mir an.

Der Streifen beginnt mit einem frappierenden Tondokument und der Frage, wer da spricht. Ein Hitler-O-Ton, so ganz anders als die aus seinen Reden sattsam bekannte fanatisch krakeelende Stimme des Führers. Wollten Sie uns also diesen unbekannten Hitler vorführen?

I Ja, unbedingt, aber hinter Hitler stand Goebbels. Alle offiziellen Dokumente, die wir aus der Zeit des Nationalsozialismus haben, gingen über den Schreibtisch von Goebbels. Er hat das Bild des Nationalsozialismus geschaffen für seine Zeitgenossen, aber mit Fortdauer des Krieges auch für die Nachwelt, also für uns. Ich möchte diesen Mythos zerstören und die Nazis als das, was sie waren, zeigen: verabscheuungswerte Figuren.

Goebbels (Robert Stadlober li.) zu Besuch bei Hitler (Fritz Karl). © Zeitsprung Pictures, Panorama Entertainment, Foto: Stephan Pick

Der eigentliche „Held“ des Films ist aber sicherlich der Verführer Joseph Goebbels, Propagandaminister und Meister der Propaganda. Ein Biopic?

I Auf keinen Fall. Wenn ich das Hitler-Bild dekonstruieren will, muss ich mir den vornehmen, der es geschaffen hat: Goebbels. Mit zunehmender Dauer des Krieges wollte Hitler immer weniger öffentlich auftreten. Wichtige Reden, wie die Sportpalastrede zum totalen Krieg, hielt Goebbels und konnte so das Bild von Hitler prägen.

Auch sein Privatleben, seine Affären, insbesondere jene mit seiner tschechischen Geliebten, kommen in der Spielhandlung mit Goebbels-Darsteller Robert Stadlober nicht zu kurz. Für mich menschelt es da ziemlich stark. War das notwendig?

I Das war absolut notwendig. Ich will diese Figuren als Menschen zeigen und kann daher ihr Privatleben nicht ausblenden, zumal Goebbels einer der ersten war, der sein Privatleben in den Dienst der Propaganda gestellt hat. Die Illustrierten und Wochenschauen waren voll von der angeblich wunderbaren Familie Goebbels mit den Kinderlein. Auch diesen Mythos muss ich zerstören, denn Goebbels war auch im Privaten ein Lügner und Betrüger, der nicht davor zurückschreckte, am Ende sogar noch seine Kinder umzubringen. Auch heutige Demagogen zeigen immer wieder ihr scheinbar heiles Privatleben.

„Die Überlebenden sind
für mich die
wichtigste Instanz.“
Joachim A. Lang

Was Hitler betrifft, kommt Eva Braun nur am Rande vor, seine galante Verehrung für Goebbels Frau Magda ist da viel intensiver gezeigt. Für die Goebbels-Kinder ist er der gute Onkel. In der Verkörperung von Fritz Karl ist er vielleicht überhaupt zu sehr der gute Onkel. Was war dabei Ihre Absicht?

I Eva Braun spielt in der Propaganda ja keine Rolle, ich zeige das Private nur, insofern es für die Propaganda notwendig war. Hitler ist nur vordergründig der gute Onkel. Er war Trauzeuge der Goebbels und Pate der Kinder, und das erklärt auch den Mord und Selbstmord im Bunker. Für Goebbels wäre ein gewöhnlicher Selbstmord zu wenig gewesen. Er wollte der Nachwelt zeigen, was Treue zum Führer über den Tod hinaus bedeutet, und dazu hat er die aus seiner Sicht größtmögliche Tat vollbracht, nämlich seine Kinder umzubringen. Es ist abscheulich, es war sein letzter Propagandaakt.

Der Film ist ein Hybrid, ein Dokudrama mit einer teilweise fiktionalen Spielhandlung und historischen Filmdokumenten in Schwarz-Weiß. Man kann diese Teile also allein durch die Farbe unterscheiden. Bei den Dialogen weiß man allerdings nicht genau, welches wörtliche Zitate sind und was dabei fiktiv ergänzt wurde.

I Ich möchte den Begriff „Dokudrama“ für meinen Film ablehnen. Es ist eine fiktionale Handlung, allerdings nicht, wie üblich, eine geschlossene, sondern eine offene Form mit bewussten Unterbrechungen dieser Handlung. Ich zeige bei diesen Unterbrechungen Holocaust-Bilder und Aussagen der Überlebenden. Ich nenne das „Einbrüche der Wirklichkeit“. Ich verwende viele Zitate aus unzähligen Dokumenten, entscheidend ist, dass der Film dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung standhält – und besonders auch der Beurteilung der Opfer. Das habe ich erreicht, die Überlebenden des Films und auch andere Opfer des Holocaust haben den Film gesehen und waren sehr begeistert. Das ist für mich die wichtigste Instanz.

Hitler als Trauzeuge: Franziska Weisz als Magda Goebbels, Fritz Karl als Hitler und Robert Stadlober als Goebbels (v. li. n. re.) © Zeitsprung Pictures, Panorama Entertainment, Foto: Stephan Pick

Die Tendenz des Films wird ganz deutlich. Es geht um die Fanatisierung der Massen, bis hin zur Begeisterung für den totalen Krieg, um die Manipulation der Medien, die Macht der Bilder, eine Kunst, die Goebbels perfektionierte. Fake News lange bevor es den Begriff gab. Assoziationen zur Gegenwart, in der diese Mittel viel mächtiger und perfider sind, erscheinen zwangsläufig. War das Ihre Mission oder wollten Sie primär das Geschichtsbild zurechtrücken?

I Besser kann man es nicht sagen. Ich will vorführen, wie es Goebbels und Hitler gelungen ist, die Mehrheit der Deutschen hinter ihre Ziele zu bringen: Holocaust und Zweiter Weltkrieg, die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Goebbels’ Sportpalastrede zum Beispiel war eine multimediale Inszenierung. Zunächst die Choreografie im Sportpalast selbst, dann die gleichgeschaltete Zeitung, das Radio und schließlich die Wochenschau. Ich hoffe, wenn die Menschen sehen, was mit den damaligen Mitteln möglich war, wird klar, wie viel gefährlicher die Demagogen von heute mit den Mitteln der Social Media, KI etc. sind. Man kann sagen, es ist ein Film gegen Verführung.

Die semidokumentarische Filmhandlung wird, wie erwähnt, an einigen Stellen durch Einspielungen jüdischer Zeitzeugen unterbrochen. Die 102-jährige Margot Friedländer, Charlotte Knobloch, Leon Weintraub und andere kommen zu Wort. Es sind berührende, mahnende Stimmen. Böse könnte man sagen, sie geben dem Film den „KoscherStempel“. Was würden Sie dem entgegnen?

I Über das wäre ich entsetzt! Die Überlebenden sind für mich, wie gesagt, die wichtigste Instanz. Ich habe die besten historischen Berater gehabt, bin selbst Historiker, und trotzdem gibt es einen Bereich, da brauche ich diese Instanz, z. B. bei der Frage, ob ich Holocaust-Bilder zeigen darf. Da habe ich Margot Friedländer gefragt, und sie schaut mich mit großen Augen an und sagt: „Wir haben das alles mitgemacht. Ihr müsst das zeigen, damit die Leute es sehen, damit nie wieder geschehen kann, was geschehen ist.“ Das ist das Gegenteil von Koscher-Stempel. Diese Menschen leben und können uns in der Gegenwart mahnen; sie bringen zum Ausdruck, was auch Primo Levi sagte: „Es ist geschehen, und folglich kann es auch wieder geschehen. Das ist der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ Und das verkörpern diese Zeitzeugen 2024.

„Was wahr ist,
bestimme ich“
Joseph Goebbels

Die gerade noch leben. Insofern ist der Film zur rechten Zeit gekommen, was das, aber auch was seine Aktualität angesichts der Weltlage betrifft.

I Auf jeden Fall. Die wichtigste Resonanz kam für mich, als ich in München den Rohschnitt Charlotte Knobloch gezeigt habe. Nach dem Film saß sie regungslos da, und auf einmal steht sie auf, umarmt mich und sagt: „Gratulation! Hätte es den Film vor 20 Jahren gegeben, wäre es mit dem Rechtspopulismus nicht so weit gekommen!“

Auch wenn Ihr Film gleichsam gegen den Strich der bisherigen Nazi-Streifen gebürstet ist, so wird er in der Rezeption doch in dieses Genre fallen. Wie erreicht man andere Publikumsschichten?

I Das ist natürlich mein Ziel. Der Film hebt sich von allen anderen ab, denn er ist der einzige, der die Führungsclique Deutschlands in den Jahren 1938 bis 1945 zeigt, in der sie die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen haben. Sehr bewegt hat mich der Publikumspreis beim Münchner Filmfest, der für mich eine Bestätigung war. Wir haben jetzt eine breite Resonanz und hoffen, die Schichten zu erreichen, die nicht nur ins Arthouse-Kino gehen. Wichtig ist, dass besonders auch Jugendliche den Film sehen. Bei der gegenwärtigen Unwissenheit über die Verbrechen des Dritten Reiches ist Aufklärung dringend notwendig.

JOACHIM A. LANG, 1959 in Deutschland geboren, studierte Germanistik und Geschichte und promovierte über Bertolt Brecht. Als Autor und Regisseur realisierte er große Spiel- und Dokumentarfilme, darunter Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm (2018), George (2013), Die Deutschlandrevue (2010), Brecht – Die Kunst zu leben (2006) und die fünfteilige Doku Denken heißt verändern (1998).
Seine Arbeiten wurden mit den wichtigsten Film- und Fernsehpreisen ausgezeichnet. © Zeitsprung Pictures, Panorama Entertainment, Foto: Stephan Pick

Aufklärung darüber hinaus, wie News entstehen, Medien gegängelt und Bilder manipuliert werden können, ist wohl ebenso notwendig.

I Absolut, darum geht es mir. Wenn man am Beispiel des Dritten Reichs erkannt hat, wie gelogen wird, und man Goebbels dabei über die Schulter schaut, dann wird man hoffentlich auch resistenter gegenüber heutigen Verführungsstrategien. Das ist das Ziel.

Ich sehe bei der vom Film eingenommenen Täterperspektive aber schon auch eine Gefahr der Identifikation mit den Tätern. Glauben Sie, dass diese gebannt ist?

I Ich glaube, dass sie total gebannt ist. Bei der Premiere in Berlin war ein Schaudern im Kino, vor allem durch das wunderbare Spiel der Schauspieler, die Einfühlung nicht zulassen, die verabscheuungswürdige Wesen zeigen. Dazu kommen die Bilder vom Holocaust. Einfühlung möchte ich nur für die Überlebenden, die Opfer des Holocaust und deren Familien zulassen. Sie sind die Helden des Films.

 


„Führer und Verführer“: ein Film und ein Lehrstück

„Was wahr ist, bestimme ich“, so Hitlers Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Eine kurze Aufnahme, in der Hitlers zitternde Hand hinter dessen Rücken zu sehen ist, darf natürlich nicht in die Wochenschau, denn „der Führer zittert nicht“.

Um die Inszenierung der Bilder, die bis heute unsere Vorstellung vom Dritten Reich prägen, als Teil der perfiden Propaganda-Maschinerie der Nazis zu entlarven, geht es Joachim A. Lang in seinem neuen Film „Führer und Verführer“.

Im Zentrum des semi-dokumentarischen Streifens, in dem Spielfilmszenen mit historischem Archivmaterial aus der Shoah gegengeschnitten werden, steht der meisterliche Demagoge Joseph Goebbels (Robert Stadlober), skrupelloser Strippenzieher und mächtiger Mastermind der NS-Propaganda, ohne den die Fanatisierung der Massen wohl kaum denkbar gewesen wäre. Ihm gegenüber erscheint Hitler als ein in seiner Ideologie, seinem Judenhass gefangener Führer in der Darstellung von Fritz Karl streckenweise nahezu hilflos. Nur in einigen Szenen lässt er den allmächtigen „Gröfaz“ ahnen. Mit Goebbels und der von ihm verehrten und ihn adorierenden Magda (Franziska Weisz) verbindet Hitler eine seltsame Dreiecksbeziehung. Für die blonde Kinderschar des Vorzeigepaares ist er der gute Onkel. Diese fast intimen Einblicke ins Private sind eine Schwäche des Films, der erstmals, so der Regisseur, die führenden Nazis in der Zeit von 1938 bis 1945, vom „Anschluss“ bis zum Untergang im Führerbunker aus der „Täterperspektive“ porträtiert.

Von dieser Handlung dramaturgisch ganz klar getrennt kommen einige jüdische Holocaust-Überlebende von der ältesten, Margot Friedländer (geb. 1921), bis zur jüngsten, Eva Umlauf (geb. 1942), mahnend zu Wort. Zu mahnen, zu warnen ist ganz deutlich die Tendenz des Films, dem ein Bezug zu Populisten und Demagogen unserer Gegenwart und deren vergleichsweise viel mächtigeren Möglichkeiten gelingt.

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