„Ich bin kritisch, aber nicht feindlich gegenüber der Politik meines Landes“

Der israelische Filmregisseur und Maler Amos Gitai erarbeitete für das Wiener Burgtheater die deutschsprachige Version seines erfolgreichen Theaterstückes über die Ermordung Jitzchak Rabins.

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Amos Gitai hat es sich trotz einer Operation nicht nehmen lassen, in Wien zu inszenieren. Hier läuft auch eine Filmretrospektive über ihn, und in Salzburg eine Ausstellung. © Reinhard Engel

Die schöpferische Energie blitzt ungebrochen aus seinen wachen Augen, auch wenn sich Amos Gitai nach einer Operation körperlich noch etwas angeschlagen fühlt. Auf seine Inszenierung in Wien und die Ausstellung seiner Bilder in Salzburg wollte der 73-jährige studierte Architekt, Israels international erfolgreichster Filmregisseur, keinesfalls verzichten. Noch dazu, wo noch bis 1. Juli im Filmmuseum eine große Retrospektive zum Film-Œuvre des Regisseurs läuft. So erholt er sich bei einem Teller Spaghetti Bolognese nach den Vormittagsproben im luftig hellen Büro von Direktor Martin Kušej.

Dem Direktor des Burgtheaters ist es auch zu danken, dass Gitais multimediales Theaterstück Chronik eines Mordes – Jitzchak Rabin Anfang Mai in Wien zu sehen war. Denn Kušej kennt Amos Gitai von seinen zahlreichen Israel-Besuchen (siehe Porträt in WINA 12/23). Das Theaterstück war 2015 – zum 20. Todestag der Ermordung des Premierministers am 4. November 1995 – fertig und erlebte 2016 im Rahmen des internationalen Festivals von Avignon seine Uraufführung. Für das Burgtheater erarbeitete Gitai jetzt mit den Schauspielerinnen Bibiana Beglau und Dörte Lyssewski eine Fassung für zwei Schauspielerinnen, Musiker und einen dreißigköpfigen Chor.

„Was wird aus euch, den jungen Leuten,
Fleisch von unserem Fleisch, die ihr geblieben seid und den enttäuschten Traum lebt? Werdet
ihr die Dunkelheit, die uns umgibt, überwinden?“
Efratia Gita

Die Ermordung Jitzchak Rabins markiert einen Wendepunkt in der israelischen Politik, setzte sie doch dem Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern ein Ende, der sich in den zwei sogenannten Oslo-Abkommen manifestierte und in der Verleihung des Friedensnobelpreises 1994 an Rabin, seinen Außenminister Shimon Peres und den Vorsitzenden der PLO Jassir Arafat seinen Höhepunkt fand. Peres übernahm nach Rabins Ermordung das Amt des Ministerpräsidenten, verlor jedoch ein halbes Jahr später die Wahl gegen Benjamin Netanjahu, der seinen Aufstieg dem Widerstand gegen die Friedenspolitik zu verdanken hatte und damals die erste seiner mittlerweile sieben Amtszeiten antrat. „Seit Rabins Ermordung vor einem Vierteljahrhundert haben Israelis und Palästinenser die Komplexität ihrer Beziehungen nie mehr angesprochen“, schrieb Gitai zur Begleitung der Wiener Aufführung.

Der brutale Angriff der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 liegt noch nicht lange zurück, dennoch wird das Trauma dramatisch viel verändern, weit in die unabsehbare Zukunft wirken. Davon ist klarerweise auch der 1950 in Haifa geborene, mehrfach ausgezeichnete Schöpfer von rund 90 Kurz-, Dokumentar- und Spielfilmen, der derzeit seinen Wohnsitz in Paris hat, schwer getroffen. „Die Gräueltaten der Hamas sind unverzeihlich. Und sie können mit keinem Argument der nationalen Befreiung gerechtfertigt werden. Es ist Barbarei, Brutalität, Vergewaltigung. Freunde meiner Kinder wurden entführt, vergewaltigt, getötet. Für so etwas gibt es keine Gnade, keine Vergebung, keine Erklärung“, meinte Amos Gitai in einem Interview mit der ZEIT im Februar 2024. „Meinen palästinensischen Freunden wünsche ich, dass sie nicht unter einem Hamas-Regime leben müssen, das eine Gefahr für alle ist, für Frauen, für LGBT-Personen, für Christen und Minderheiten in der Region.“

Amos Gitais einschneidendste persönliche und das weitere Leben prägende Erfahrung war sein Einsatz im Jom-Kippur-Krieg 1973. Im Oktober wurde der damalige Architekturstudent gemeinsam mit einem Freund einer Sanitätseinheit zugeteilt. Tag und Nacht waren sie unterwegs, um sowohl Piloten zu retten, die über Syrien abgeschossen worden waren, wie auch Soldaten zu bergen, die in Panzern verbrannt waren. Am 11. Oktober, Gitais 23. Geburtstag, fünf Tage nach Kriegsbeginn, wurde ihr Hubschrauber von einer syrischen Rakete getroffen. Der Co-Pilot, der nur eine Armlänge von Amos entfernt saß, wurde durch das Projektil enthauptet. Dem verletzten Piloten gelang es, den Hubschrauber noch einige Minuten in der Luft zu halten, bevor sie auf israelischer Seite abstürzten. Amos wurde schwer verletzt. Sein Geburtstag wäre fast zu seinem Todestag geworden.

„Als ich das überlebte, entschied ich, nur mehr das zu machen, was ich wollte“, lacht er heute. Er schloss zwar noch am Technion in Haifa und in Berkeley, Kalifornien, seine Architekturausbildung ab, arbeitete aber bereits als Freelancer für das israelische Fernsehen. Auch zu malen begann er gleich nach dem Jom-KippurKrieg, also vor 50 Jahren. Mit einer Super-8-Kamera, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, hielt er Szenen des Krieges fest und durchlebt in seinen Selbstporträts, Gemälden und Zeichnungen seine traumatischen Momente immer wieder. Frühe Zeichnungen und neue Keramiken sind noch bis Mitte Mai zum ersten Mal in der Ausstellung War Requiem in Salzburg in der Galerie Thaddaeus Ropac zu sehen. Fragen nach dem Warum. Über seinen Film The Last Day of Yitzhak Rabin (2015) sagte Gitai wiederholt: „Diese Arbeit war für mich die Gelegenheit, der israelischen Gesellschaft eine Frage zu stellen.“ Und wie lautete diese? Kurz und bündig folgt die Antwort: „Die Frage heißt ‚warum‘. Warum das geschah. Natürlich richtet sich das nur an Teile der israelischen Gesellschaft, aber diese wurden aufgehetzt. Und aufgehetzt wurde sie von jemandem, der jetzt die Regierung führt.“ Dieses entscheidende Warum beschäftigt auch das Team, das an der Produktion im Burgtheater mitarbeitet. „Dieses Projekt ist eine Zusammensetzung aus originalem Bild- und Tonmaterial und Interviews, die Amos geführt hat, unter anderem mit Leah Rabin, nur einige Tage nach dem Attentat. Und viel O-Ton von Jitzchak Rabin selbst“, erzählt Dörte Lyssewski, die am ersten Abend 90 Minuten lang allein die unterschiedlichsten Persönlichkeiten verkörpert. „Amos zeigt, was das Einzigartige an diesen Vorbereitungen war, weil der Mörder kein palästinensischer Terrorist, sondern ein radikalisierter Jude war.“

Die Frage nach dem Warum schwebt laut Lyssewski über dem Ganzen, weil der Fokus auf der Person und dem Politiker Rabin liegt, der mit den Worten zu hören ist: „Ich war selbst ein Mann des Militärs, ich habe auch Palästinenser bekämpft, meine Weste ist nicht weiß. Aber der Zeitpunkt ist erreicht, wo man am Frieden arbeiten muss.“ Denn es gehe nicht darum, meint die politisch wache Künstlerin, dass eine Seite alles falsch und die andere alles richtig macht, sondern darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten es gibt. Lyssewski, die enge künstlerische und persönliche Bande zu Luc Bondy* hatte, wird am 17. August 2024 bei den Salzburger Festspielen aus Theodor Herzls Schauspiel in vier Akten Das neue Ghetto lesen. „Jetzt lese ich das 1893 entstandene prophetische Stück schon, stehe damit am Anfang der Geschichte Israels, und mit Amos erlebe ich das Heute.“

Wird es 2025 zum 30. Todestag Rabins eine Adaption seines Theaterstücks geben? „Ich glaube nicht. Wir haben uns das hier in Wien jetzt mit dem ganzen Team angehört und haben nicht den Eindruck, dass irgendetwas fehlt“, so Gitai. „Die Realitäten im Mittleren Osten verändern sich laufend – nicht immer zum Besseren. Wir können der Realität nicht nachlaufen, unsere Arbeit ist eine Momentaufnahme, wie eine Malerei. Wenn Sie Pablo Picasso gefragt hätten, ob er 30 Jahre nach der Entstehung seines Antikriegsgemäldes Guernica (1937) eine Adaption machen wollte? Nein, das ist hochaktuell, Guernica findet heute statt.“

Er wisse nur, dass das Fehlen einer Persönlichkeit wie Jitzchak Rabin angesichts der aktuellen Ereignisse noch tragischer ist. „Als ich den Film damals gedreht habe, ging es mir nicht nur um die Verehrung einer politischen Führungsfigur – das liegt mir nicht. Ich hatte Respekt vor seinem ernsthaften Bemühen, was man selten in der Politik findet. Rabin hätte ein hochdekorierter General bleiben können, der sich auf seinen Lorbeeren ausruht, hat sich aber entschieden, gegen den allgemeinen Zug der Zeit anzugehen und nach Lösungen zu suchen. In diesem Sinne war er ebenso Realist wie Visionär.“

„Die Frage heißt ‚warum‘. Warum das geschah. Natürlich richtet sich das nur an Teile der israelischen Gesellschaft, aber diese wurde aufgehetzt. Und aufgehetzt wurde sie von jemandem, der jetzt die Regierung führt.“
Amos Gitai

Was Kunst kann. Amos Gitai wird nach der Premiere mit seiner Frau für einen Monat nach Israel fliegen. Wie schätzt er die aktuelle Lage ein? Glaubt er, dass sich Israel je von den Wunden des 7. Oktober und allem, was darauf folgte, erholen wird können?

„Ich kann die Zukunft nicht voraussagen, nur feststellen, dass Kunst die Realität nicht verändern kann, weder zum Guten noch zum Schlechten.“ Heißt das, wir müssen resignieren, aufgeben?

„Nein, auf lange Sicht hat Kunst die Möglichkeit, etwas für das Gedächtnis festzuhalten und Zuversicht zu schaffen. Ich mache meine Filme als Bürger, als Zeuge der Geschichte meines Landes, der in die Geschehnisse involviert ist. Die Juden haben abertausende Jahre überdauert, weil sie nicht nur an die Macht der Stärke glaubten, sondern an die Kraft von Ideen, also sprachen sie über Ideen.“

Der intellektuelle Chronist des israelischen Alltags nennt auch das Alte Testament eine ausgezeichnete kritische Denkschule: „Das war sicher kein Public-Relations-Text, sondern eine wilde Geschichte. Der geliebte König David z. B. war korrupt und unmoralisch: Er begehrte Batsheva und schickte ihren Mann in den Krieg, damit dieser getötet wird und er sie besitzen kann.“

Dörte Lyssewski beschäftigt sich nicht nur im Rahmen des aktuellen Projekts mit Amos Gitai mit Fragen der nach dem Warum von Ereignissen einst und heute. © Christoph Liebentritt

Gitai meint, er könne all dies nur neu interpretierten, denn er sei überhaupt nicht religiös, liebe aber die Aussagekraft und Schönheit dieses traditionellen Textes. „Ich bin kritisch, aber nicht feindlich gegenüber der Politik meines Landes. Ich glaube daran, dass ein guter Künstler kritische Arbeit leisten soll, nicht Propaganda.“ Gitai zitiert häufig einen Satz, den ihm der Bürgermeister von Nablus 1982, nach dem Libanon-Krieg, mitgegeben hat: „Pessimismus ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.“ Ist das auch angesichts der aktuellen Lage noch gültig? „Absolut. Wir haben gute Gründe, pessimistisch zu sein. Aber was geschieht, wenn wir das sind? Wir werden nihilistisch, dekadent. Wir bleiben optimistisch, trotz alldem.“

An welchem Projekt arbeitet der vielseitige Künstler jetzt? „Vielleicht gibt es eine baldige Rückkehr nach Wien. Denn der ORF wäre interessiert an einem Film über meine Mutter, die von 1929 bis 1932 in Wien lebte und wunderbare Briefe über diese Zeit geschrieben hat.“

Es handelt sich um die Briefe seiner Mutter Efratia Gitai, die 1909 in Israel als Tochter sozialistischer russischer Juden geboren wurde. „Meine Großeltern mütterlicherseits kamen 1905 mit David Ben-Gurion aus Russland nach Palästina, nachdem antisemitische Pogrome Osteuropa überzogen hatten.“ Sein Vater Munio Weinraub-Gitai stammte aus Polen und arbeitete bis 1933 in Weimar als Bauhaus-geschulter Architekt.

Der renommierte französische Verlag Gallimard veröffentlichte die Korrespondenz von Efratia Margalit-Gitai zwischen 1929 und 1994, die eine intellektuelle Aktivistin und nicht religiöse Expertin von biblischen Texten war. Jeanne Moreau las für France Culture sieben ihrer Texte ein.

„Wenn meine Mutter mit einer politischen Situation in Israel unglücklich war, habe ich sie immer gefragt, warum sie nicht fortgeht. Einmal schrieb sie mir einen berührenden Brief, hier der letzte Absatz daraus: „Ich gehe nicht auf Friedhöfe. Nein, trockene, hohle Knochen […]. Nein, aber hier werden die Erinnerungen festgehalten, und es ist schwer, sie herauszureißen. Für mich gibt es wahrscheinlich keinen anderen Ort, aber die Sorge nagt an mir: Was wird aus euch, den jungen Leuten, Fleisch von unserem Fleisch, die ihr geblieben seid und den enttäuschten Traum lebt? Werdet ihr die Dunkelheit, die uns umgibt, überwinden? Lass es dir gutgehen, Mama.“


* „So bleibt Luc am Leben“, Dörte Lyssewski über ihre Arbeit mit Luc Bondy. In: WINA 03/2016.

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