„Ich habe in Wien Freunde in der Wissenschaft gefunden“

Isaac P. Witz, einer der renommiertesten Krebsforscher Israels, war für einen Vortrag in seiner Geburtsstadt Wien. Anlass war die Verleihung einer Adjunct Professorship am Zentrum für Krebsforschung der MedUni. WINA hat ihn zum Gespräch getroffen.

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Isaac P. Witz wurde 1934 in Wien geboren. 1939 emigrierte seine Familie nach Israel, wo er als Immunologe bis heute bahnbrechende Forschungsarbeit leistet. © Reinhard Engel

WINA: Herr Professor Witz, Sie sind einer der führenden Krebsforscher Israels, haben unter anderem erst im Vorjahr den renommierten Szent-Györgyi-Preis für Fortschritte in der Krebsforschung der amerikanischen National Foundation for Cancer Research (NFCR) erhalten. Können Sie unseren Leserinnen und Lesern, die keine medizinischen Fachleute sind, Ihre wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse erläutern?
Witz:
In den 70er-, 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Gene entdeckt, die zur Transformation normaler Zellen zu Krebszellen führen, ebenso Gene, die diese Transformation unterdrücken (Onkogene beziehungsweise tumorunterdrückende Gene). Diese wichtigen Entdeckungen erklärten den Mechanismus der Krebsbildung.

 

Damit dachte man, man hätte den Kampf gewonnen?
I Die Hoffnungen waren damals tatsächlich groß, bis sich herausstellte, dass Onkogene und tumorunterdrückende Gene nicht so eine große Rolle im Fortschreiten des Tumors zu Metastasen spielen. Die Metastasen töten dann 90 Prozent der Krebspatienten, nicht der ursprüngliche Krebs. Und jetzt kommen wir zu meinem Beitrag: Schon bei meinen Post-Doc-Studien in den USA habe ich einen ersten wissenschaftlichen Aufsatz publiziert, in dem stand, dass Krebszellen nicht in einem Vakuum leben. Sie sind im Austausch mit anderen Zellen. Ich habe als Erster gezeigt, dass Antikörper und andere Zellen in den festen Tumor eindringen können. Dort interagieren sie und kommunizieren mit den Krebszellen. Diese Interaktion führt entweder zum Fortschreiten der Krebszellen oder zu ihrem Anhalten. Das ist verantwortlich dafür, was wir Krebsfortschritt nennen, nicht für den Ursprung, aber für die Verbreitung des Krebses.

 

Sie meinen die Metastasierung?
I Auch, aber ich meine schon die Phase vor der Entwicklung von Metastasen. Es geht um die Anfänge, um das Teilen der Zellen, den Beginn des Weiterwanderns innerhalb des Körpers, das Eindringen in andere Organe. Was ich damals begonnen haben, war, die Krebs-Mikroumgebung zu untersuchen. Die anderen Zellen rund um den Krebs können entweder bei seiner Bekämpfung helfen, oder sie unterstützen den Krebs dabei, sich zu Metastasen weiterzuentwickeln. Wenn etwa das Immunsystem nicht korrumpiert ist, kann es hier blockieren. Aber in vielen Fällen ist es eben korrumpiert.

 

Und wie kann man dem entgegnen?
I Mit Immuntherapie. Diese soll diese Korruption überwinden und den Zellen und Antikörpern dabei helfen, das zu machen, was sie können. Die gesamte Immuntherapie basiert darauf, dass die Lymphozyten in den Tumor eindringen können, um ihn zu bekämpfen. Sie hebt die Blockade auf und lässt diese ihre Arbeit am Tumor machen. Viele der moderne Biomedikationen wenden sich nicht gegen Tumorzellen, sondern gegen Zellen der Umgebung des Tumors. Das gesamte Konzept der krebszentrierten Behandlung hat sich etwa ab den 2000er-Jahren in diese Richtung verändert.

 

Lassen Sie uns von der Wissenschaft zur Person des Wissenschaftlers wechseln. Wie sind Sie Forscher geworden? Haben Sie einmal daran gedacht, Arzt zu werden, oder haben Sie sich gleich für Biologie interessiert?
I Eigentlich habe ich mich ursprünglich für etwas ganz anderes interessiert. Ich wollte Geschichte studieren. Aber mein Vater, der nach unserer Emigration aus Wien nach Palästina als Jurist keine Arbeit in seiner Branche fand, hat mich dazu angehalten, etwas Praktisches zu studieren. Er hat gesagt: Bluttests und Urintests wird man immer brauchen, studiere Biologie und Bakteriologie.

 

„Mein Vater, der nach unserer Emigration aus Wien
nach Palästina als Jurist keine Arbeit in seiner Branche fand, hat mich dazu angehalten, etwas Praktisches zu studieren. Er hat gesagt: Bluttests und Urintests wird man immer brauchen, studiere Biologie und Bakteriologie.“
Isaac P. Witz

 

Erzählen Sie von Ihrer Familie.
I Mein Vater wurde in Lemberg geboren, im Ersten Weltkrieg war er Offizier in der kaiserlichen Armee, unter anderen an der italienischen Isonzo-Front. Er wurde in Wien abgerüstet, da traf er meine Mutter, ihre Familie lebte schon seit Generationen hier. Er war Jurist bei einer Wiener Bank und wurde mit der Wirtschaftskrise 1929 entlassen. Dann arbeitete er als Vertriebsmanager für eine adelige Besitzerin von rumänischen Kohlengruben, er verkaufte etwa Kohle an sämtliche Wiener Polizeiwachstuben.

 

Sie wurden 1934 in Wien geboren, 1939 floh die Familie nach Palästina.
I Mein Vater war Zionist, aber der unmittelbare Anlass war seine Verhaftung nach der „Kristallnacht“.

 

Und er kam wieder frei?
I Es war eine wilde Geschichte. Er und andere verhaftete Juden mussten sich in einer Kaserne mit dem Gesicht zur Wand aufstellen. Mein Vater weigerte sich, das zu tun. Ein Feldwebel trat vor ihn hin und forderte ihn auf, sich umzudrehen. Mein Vater sagte, ein österreichischer Offizier dreht sich nicht zur Wand. Da sagte der Feldwebel: Sie waren wahrscheinlich im Hinterland. Da antwortete mein Vater, und er war sehr impulsiv: „Als du noch in die Windeln geschissen hast, war ich schon an der Front.“

 

Und was geschah dann?
I Der Mann ging kurz aus dem Raum, wenig später durfte mein Vater gehen. Aber es war klar, dass wir Österreich verlassen müssten. Mein Vater durfte als Jude auch nicht mehr mit Nichtjuden in seiner Firma zusammenarbeiten. Ein Onkel von mir wurde auch nach Dachau geschickt.

 

Was hat Ihr Vater dann in Jerusalem gemacht?
I Er hat in seinem Beruf in einem neuen, fremden Land nicht arbeiten können. Sein Beruf als Jurist war dort nutzlos. Er und meine Mutter sind mit Eiern und Butter von Haus zu Haus gezogen, als Straßenhändler. Später hat er dann eine eigene Greißlerei betrieben. Das war der Grund, dass er mich aufforderte, einen praktischen Beruf zu erlernen. Ich habe nach meinem Militärdienst kurz ins Medizinstudium hinein geschnuppert, aber das war nicht meines, ich habe schließlich meinem Vater gefolgt und Mikrobiologie, Immunologie und Biochemie studiert. Die wissenschaftliche Laufbahn sollte dann bald beginnen. Forschung gegen Krebs war schon ganz früh ein Thema, dabei ist es ab meiner Promotion auch mein Leben lang geblieben.

 

Israel ist für seine fruchtbare Verknüpfung von Wissenschaft und Wirtschaft bekannt, etwa unter dem Schlagwort „Start-up Nation“. Hat es Sie nie gereizt, von der Wissenschaft in die Wirtschaft zu wechseln?
I Eine Verwandte hat mir wiederholt gesagt: „Warum wechselst du nicht ins Business? Du bist talentiert.“ Ganz offen gesprochen, es hat mich nicht interessiert.

 

Aber haben Sie auch als Wissenschaftler nie Kontakte zur Industrie gehabt?
I Doch. Im Verlauf meiner Karriere war ich an der Universität von Tel Aviv Dekan für Forschung und Entwicklung. Es war damals genau meine Aufgabe, die Erkenntnisse und Entdeckungen meiner Forschungskollegen der Industrie näherzubringen.

 

Und hat das funktioniert?
I Das hat in manchen Fällen funktioniert, in anderen nicht. Mit eigenen Forschungsergebnissen ist es mir nicht gelungen. Ich halte mehrere Patente, und es war auch einmal knapp davor, dass ein Investor eines ankauft. Es hat dann allerdings doch nicht geklappt.

 

So sind Sie für ihre weitere Karriere stets auf der wissenschaftlichen Seite geblieben?
I Ja.

 

Sie haben in Israel, in den USA gearbeitet, waren immer wieder auch für Forschungssemester in Europa. Gibt es zwischen diesen Ländern und Regionen Unterschiede im Zugang zur Forschung, oder ist das heute ein globaler, internationaler Prozess, der überall ähnlich abläuft?
I Das ist definitiv ein internationalisierter Prozess. Dabei spreche ich von guter Wissenschaft. Allerdings ist die schlechte Wissenschaft auch schon international.

 

Viele Juden, die vertrieben worden waren, wurden nie nach Österreich zurückgerufen. Sie haben Wien oft besucht, hier geforscht, Vorträge gehalten wie eben jetzt. Können Sie sich erinnern, wer Sie als Erster eingeladen hat?
I Mein Vater hat gesagt, er kommt nie wieder nach Wien. Meine Mutter hatte hier noch Familie, aus Wien und aus Ungarn, und sie ist sehr wohl gefahren. Ich bin hierher gekommen zu Professor Michael Miksche Er ist ein enger Freund geworden und wurde später Leiter des Krebsforschungszentrums. Hier in Wien hat man ja wie in anderen Ländern die MedUni von der Universität abgespalten, die Krebsforschung ist an die MedUni gewandert. Ich war hier für mehrere Forschungssabbaticals, jeweils für einige Wochen oder Monate. Aber ich habe auch enge persönliche Beziehungen zu den Chemikern an der Universität, etwa zu Dekan Bernhard Keppler. Dort habe ich auch mein Ehrendoktorat erhalten.

 

Hatten Sie vor diesen persönlichen Beziehungen an der Universität ebenso wie Ihr Vater Vorbehalte gegen Österreich, das Sie ja hinausgeworfen hatte?
I Ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich war in Paris für ein Forschungsstipendium und bin von dort nach Wien gefahren. Da wollte ich unsere ehemalige Wohnung sehen. Ich habe dort angeläutet, und als mir eine Frau aufgemacht hat, habe ich die Fassung verloren und zu schreien begonnen, dass das einmal unsere Wohnung gewesen ist. Ich habe mich dann wieder beruhigt, und ich bin nicht stolz darauf.

 

Sie kennen auch die Filme, wie die Österreicher Hitler empfangen haben?
I Natürlich, aber die meisten von denen sind schon tot. Und mit den jungen Österreichern habe ich kein Problem.

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