„Ich kann nicht nur Bücher über sympathische Personen schreiben“

Von den Nationalsozialisten als „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslagern internierte Personen sind die letzte Gruppe von Verfolgten des NS-Regimes, die nun vom Nationalrat als Opfer anerkannt werden. Andreas Kranebitter, Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), hat über diese Menschen geforscht und jetzt dazu das Buch Die Konstruktion von Kriminellen, das sich mit Inhaftierten im KZ Mauthausen beschäftigt, herausgebracht. Im Gespräch mit WINA zeigt er auf, wie lange diese Stigmatisierung nachwirkt(e).

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ANDREAS KRANEBITTER, geb. 1982 in Wien, ist Soziologe und Politikwissenschafter. Von 2006 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, anschließend bis 2017 Assistent am Institut für Soziologie an der Universität Wien. Von 2017 bis 2020 leitete er die Forschungsstelle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, ab 2020 dann das Archiv für die Geschichte der Soziologie an der Universität Graz. Mit April übernahm er die Leitung des Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes. doew.at Foto: Daniel Shaked

WINA: Sie schreiben in Ihrem Buch, als „Berufsverbrecher“ klassifizierte Personen waren die ersten Internierten im KZ Mauthausen und sind gleichzeitig die letzten, an die man sich erinnert. Die Anerkennung als NS-Opfer wurde erst diesen Mai mit dem Antrag von ÖVP, Grünen und SPÖ auf Novellierung des Opferfürsorgegesetz im Nationalrat eingeleitet. Was hatten sich denn diese Berufsverbrecher überhaupt zu Schulden kommen lassen?

Andreas Kranebitter: Sicherheit war ein zentrales Versprechen für die vermeintliche „Volksgemeinschaft“, mit dem die Nazis Zustimmung erzeugten. Die große Befürwortung des Nationalsozialismus war auch darauf aufgebaut, dass man – das war auch in den Nachkriegsjahrzehnten noch zu hören – mit den Verbrechern aufgeräumt hat, dass man die Fenster offen lassen hat können, weil nun ja Ordnung und Ruhe geherrscht hat. Durch dieses Sicherheitsversprechen hat es viel gesellschaftliche Unterstützung für den Nationalsozialismus gegeben. Um dieses Versprechen einzulösen, wurde das Instrument der Vorbeugungshaft erfunden. Jeder, der drei Vorstrafen hatte – bei Juden musste überhaupt nur eine Vorstrafe vorliegen –, konnte vom Fleck weg verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert werden. Nach dem so genannten „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland 1938 war das eine der ersten großen Aktionen. Hunderte Menschen wurden festgenommen und nach Dachau transportiert. Vorbestrafte Juden wurden dabei besonders medial inszeniert. Das war das totale Propagandainstrument.

Personen mit einer Vorstrafe hatten die Strafe für ihre Straftat ja aber schon verbüßt.
I Das ist der wesentliche Punkt. Und das ist auch das, was in der Forschung bis heute nicht deutlich genug berücksichtigt wurde. Diese Menschen hatten ihre Strafe bereits verbüßt. Dazu kommt, dass es sich in den allermeisten Fällen um kleine Diebstahlsdelikte handelte. Die 1920er- und 1930er-Jahre waren eine Zeit der sozialen Krise. Da waren auch Leute darunter, die eine Wurstsemmel gestohlen haben. Erschütternd aus heutiger Perspektive ist, dass es ganze 80 Jahre gedauert hat, bis man sagen kann, das sind auch Opfer gewesen und niemand ist zu Recht im Konzentrationslager gesessen.

Wie wurde denn nach 1945 mit diesen als „Berufsverbrecher“ bezeichneten Personen umgegangen, die die Internierung in einem KZ überlebt haben?
I Sie sind weiter unter Generalverdacht gestanden. Im Konzentrationslager waren sie die Ersten, die dort interniert wurden. Dadurch hat ein Teil von ihnen auch in der Lagerorganisation Positionen besetzt, zum Beispiel in der Küche. Durch kleine Privilegien, die damit verbunden waren, konnten diese Personen besser überleben. Es sind aber auch von dieser Gruppe 40 Prozent gestorben beziehungsweise ermordet worden. Durch jene, die Funktionen in den beliebten Innenkommandos inne hatten, sind sie im Lager aber als jene verschrien gewesen, die es sich gut eingerichtet hatten und die auch mit den NS-Schergen packelten. Das stimmt für viele von jenen, die wirklich in diesen Positionen waren, aber nicht für die ganze Gruppe. Insgesamt wurden an die 4.000 Personen als Berufsverbrecher interniert, davon hatten nur an die zehn Prozent solche Funktionen inne. Und auch von diesen haben nicht alle ihre Macht missbraucht oder sich gegen Mithäftlinge gewendet. Heute wissen wir auch, dass das System der Kapos und Funktionshäftlinge komplex ist, das betrifft ja alle Gruppen, denken wir nur an die Debatte über die Judenältesten.

„Eine Präventivhaft kann man gerade
angesichts der historischen Erfahrung mit
dem präventiven Wegsperren von Menschen
in der NS-Zeit in Österreich oder Deutschland
nicht diskutieren.“
Andreas Kranebitter

Wurden diese Häftlinge also nach 1945 als NS-Kollaborateure gesehen?
I Ja. Und das wird nicht gerne gehört, muss aber gesagt werden: Dazu, dass der Eindruck erweckt wurde, bei allen Kapos habe es sich um Berufsverbrecher gehandelt, haben auch die aus politischen Gründen Inhaftierten nach dem Krieg beigetragen. Erst ab den 1990er-Jahren wurde im Zuge der Debatte um rote Kapos im KZ Buchenwald damit begonnen, das in Frage zu stellen. Es zeigte sich, dass die kommunistischen Funktionäre im KZ auch einiges getan haben, um die eigene Gruppe zu schützen, wie zum Beispiel die, die zuletzt ins Lager kamen, für einen Transport in ein Außenlager vorzusehen. Ich will das moralisch nicht bewerten. Es sind hochkomplexe, schwierige Phänomene in Konzentrationslagern. Es war hart, was man Opfern antat, und auch, wie sie selbst andere Opfer behandeln mussten.

So ging die gesellschaftliche Ächtung der in der NS-Zeit als „Berufsverbrecher“ Klassifizierten also weiter.
I Genau. Sie wurden als das Subproletariat des Proletariats diffamiert. Sie wurden als Gewaltverbrecher, die sie gar nicht waren, diffamiert. Die meisten waren kleine Diebe. Sie wurden mit den Kapos identifiziert. Und dadurch sind sie hauptverantwortlich für die Zusammenarbeit mit der SS gemacht worden. Es ist ja auch ein Skandal der Nachkriegszeit, dass das einzige Todesurteil am Volksgericht Linz gegen einen NS-Verbrecher, das wirklich vollstreckt worden ist, einen – nach Diktion entsprechend den Nürnberger Rassegesetzen – halbjüdischen Kapo traf. Und diejenigen, die für die NS-Verbrechen in den KZs zur Verantwortung gezogen wurden, waren meist jene, die von den Nazis als Berufsverbrecher interniert gewesen waren. Sie sind eigentlich für etwas verantwortlich gemacht worden, was andere getan haben. Die wirklichen NS-Verbrecher wurden dagegen von der österreichischen Gesellschaft meist weiß gewaschen, sie waren sozial angesehen.

Von diesen von den Nazis als „Berufsverbrecher“ Bezeichneten ist heute niemand mehr am Leben. Warum ist es dennoch wichtig, diese Menschen nun postum als NS-Opfer anzuerkennen?
I Es ist für deren Familien wichtig. Es gibt in Österreich tausende Menschen, die einen Vater, Großvater, Onkel, Großonkel, eine Großmutter hatten, die im KZ waren, und niemand wusste genau, warum, und sie galten nach 1945 auch nicht als Opfer. Viele von ihnen sind nach dem Krieg wirklich abgeglitten, sozial, psychisch, in den Alkoholismus. Über diese Menschen hat niemand geredet, aber diese Menschen hatte man in der Familie. Und bis heute hat sich die Republik Österreich so verhalten, als wären diese Menschen zu Recht im KZ gesessen.

Deshalb ist es für diese Familien nun so wichtig, dass man sagt, kein Mensch war zu Recht im KZ, egal, was jemand vor der NS-Zeit gemacht hat. Diese Menschen wurden nicht wegen dem, was sie getan haben, sondern wegen des NS-Regimes und dessen wahnsinniger Vorstellung davon, wer in einer Gesellschaft leben darf und wer nicht, in ein Konzentrationslager deportiert, ermordet oder zumindest dauerhaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Diesen Menschen wurde Unrecht angetan, und das muss man klar benennen.

Ein wichtiges Kapitel der jüngeren Geschichte ist hier ein Bericht der rechtsextremen Zeitschrift Die Aula, die 2015 Häftlinge des KZ Mauthausen als „Massenmörder“ und „Landplage“ bezeichnete. Das schloss genau an dieses „Berufsverbrecher“- Narrativ an. Die Grünen brachten daraufhin eine Anzeige ein, doch die Ermittlungen wurden von der Staatsanwaltschaft Graz eingestellt. 2019 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dann anders, gegen Die Aula. Wie konnte es zu dieser Fehleinschätzung der Staatsanwaltschaft Graz kommen?
I Wie es dazu kommen konnte? Dadurch, dass es dazu kaum Forschung gab. Die Rechtsextremen waren die einzigen, die hämisch thematisiert haben, dass es in den Konzentrationslagern Rechtsbrecher gab. Das war für mich auch der Grund zu sagen, schauen wir einmal hin und schauen uns an, wer diese Rechtsbrecher waren. Hier folgte das Gericht einer jahrzehntelang verbreiteten Konstruktion, dass es für die österreichische Bevölkerung eine Zumutung gewesen sei, dass durch die Befreiung plötzlich Vorbestrafte auf sie losgelassen worden seien. So kam es auch zu diesen Erzählungen, alle im KZ seien eh Verbrecher gewesen und hätten nach der Befreiung der Lager geplündert.

Ja, es gab Plünderungen, aber nicht in dem Ausmaß, in dem es erwartbar gewesen wäre, im Gegenteil: Im KZ Mauthausen sind rund 40.000 Personen befreit worden; sie hatten gehungert, sie hatten diesen Wahnsinn überlebt; da hätte man vermuten können, dass mehr Plünderungen passieren. Aber es ist so wenig passiert, wie nur passieren konnte, auch dank der Selbstorganisation der Befreiten.

 

Andreas Kranebitter: Die Konstruktion von Kriminellen. Die Inhaftierung von „Berufsverbrechern“ im KZ Mauthausen. new academic press 2024 (MauthausenStudien, Bd. 17), 448 S., € 29,90

 

Hier wurde über Jahrzehnte das NS-Narrativ aufrecht erhalten, und sowohl Forschung wie auch Gedenkstätten haben es verabsäumt, sich genau anzuschauen, wer die Befreiten denn waren. Für mich zeigt diese Fehlentscheidung der Staatsanwaltschaft Graz, wie hegemonial diese rechtsextremen Diskurse sind, wenn sie nicht von der Wissenschaft und von Institutionen wie dem DÖW oder den Gedenkstätten zurückgewiesen werden. Gerade deshalb muss man es tun. Man muss auf diese Punkte, die durchaus auch weh tun, hinschauen.

Wir schreiben alle lieber Bücher über Helden des Widerstands. Damit identifiziert man sich auch als Autor leichter als mit Geschichten von Menschen mit einer gebrochenen Biografie, die auch nicht immer sympathisch sind. Viele von den Menschen, über die ich schreibe, sind mir nicht sympathisch. Damit muss man umgehen. Ich kann nicht nur Bücher über sympathische Personen schreiben.

Was muss die Justiz aus diesem Skandal lernen?
I Ich glaube, sie hat schon daraus gelernt, das wurde auch im Ministerium thematisiert, dass es da Probleme gibt. Das wird inzwischen in der Ausbildung von Staatsanwälten und Richtern berücksichtigt, da sind wir als DÖW auch mit dem Curriculum Justiz und Zeitgeschichte involviert.

Inwiefern hat sich die Justiz in der Bewertung von Verbrechen und Verbrechern über die Jahrzehnte verändert – Stichwort Bewertung einer Tat und nicht des vermeintlichen Charakters eines Menschen? Und spielen hier Bewertungen aus der NS-Zeit immer noch eine Rolle?
I Das ist etwas total Hartnäckiges. Schon Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass das Strafrecht bereits im 19. Jahrhundert vom Tat- zum Täter-Strafrecht wurde, also nicht mehr die Tat zählt, sondern gesagt wird, die Tat ist ja nur Ausdruck einer Täterpersönlichkeit, und die vermessen wir jetzt psychologisch, medizinisch, psychiatrisch, soziologisch, psychoanalytisch, wie auch immer. Und dann stellen wir fest, dass dieser Täter ein Gefährder ist. Und der muss dann besonders bestraft werden.

Vor dem Nationalsozialismus ist Jahrzehnte lang darüber diskutiert worden, wie man mit Mehrfachund Rückfalltätern umgeht. Da waren auch viele Österreicher beteiligt, Franz von List war ganz vorne dabei. Und bei den unverbesserlichen Verbrechern galt die Ansicht, man müsse sie auf unbestimmte Zeit wegsperren, in Strafkolonien, Gefängnissen, Sicherungsanstalten. Die Frage dabei ist, wie man feststellt, ob jemand unverbesserlich ist. Das wird man niemals feststellen können, weil man nicht vorhersagen kann, wie ein Mensch wird.

Der Nationalsozialismus hat das dann radikalisiert und den langjährigen Wunsch der Kriminologen verwirklicht und diese Sicherungsverwahrung beschlossen. Die Vorstellung, dass Täter mit mehreren Vorstrafen weggesperrt gehören, ist auch nach 1945 nie ganz verschwunden. Und das existiert weiter, wenn zum Beispiel von gewerbsmäßigem Diebstahl die Rede ist. Gerade die Kategorie, etwas drei Mal getan zu haben, damit eine spezielle Gefährlichkeit attestiert wird, spielt im österreichischen Strafrecht immer noch eine Rolle.

 

Anhand historischer Originaldokumente kann der Historiker wesentliche neue Erkenntnisse vorlegen. © Verlag new academic press

 

Über Gefährder wird heute in anderen Kontexten debattiert: Da geht es nicht um Diebstahl, sondern einerseits um Sexualstraftaten und andererseits um potenzielle Terroristen, dabei vor allem islamistische.
I Das ist ein extrem schwieriges Terrain. Ich habe hier für keine dieser Personen Sympathien, aber dennoch muss es eine klare rechtsstaatliche Grenze geben. Man kann nicht vorhersagen, was eine als gefährlich titulierte Person tun wird. Jemanden präventiv wegzusperren, ohne dass eine Tat begangen wurde, das geht einfach nicht. Eine Präventivhaft kann man gerade angesichts der historischen Erfahrung mit dem präventiven Wegsperren von Menschen in der NS-Zeit in Österreich oder Deutschland nicht diskutieren. Man wird für eine Tat verurteilt, nicht für eine auf Grund einer Einstellung oder einer Diagnose potenzielle Tat. Das muss ein Grundsatz sein und bleiben, den man nicht verschieben darf. Wenn dieses Tabu bricht, wird es ein potenzielles Problem für immer und für alle. Wir können Verhalten nicht vorhersagen. Das muss eine Gesellschaft leider aushalten.

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