Jüdisches Leben unter der Oberfläche

Jüdische Geschichte findet man im italienischen Syrakus in der dort tief „in der Erd’“ wiederentdeckten Mikwa. Sizilien kann heute nur auf eine jüdische Vergangenheit zurückblicken.

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Es sind eindrucksvolle Blicke und Perspektiven, die das tiefe und windungsreiche Labyrinth unter der Stadt eröffnet. © Reinhard Engel

Kaum betritt man das Judenviertel von Syrakus, „La Giudecca Quartiere Ebraico“, leuchtet aus einem kleinen Eckgeschäft ein Keramikhäferl mit dem hebräischen Alphabet heraus. Zuerst versteht man nicht, warum dieser Souvenir- und Buchladen mit jüdischen Verkaufsobjekten gerade hier angesiedelt ist, denn Juden leben hier keine mehr, außerdem befindet sich das Geschäft vis à vis der Chiesa di San Filippo Apostolo (Kirche des Heiligen Apostel Philippus). Doch dann enthüllt eine Tafel vor dem Kirchentor das Geheimnis: Am Fundament der Kirche, 18 Meter unter der Erde, befindet sich eine der ältesten europäischen Mikwen (Mikwa: rituelles jüdisches Tauchbad). Sie stammt aus dem Mittelalter, wurde aber erst 1977 freigelegt.

Das Innenleben dieser eher schlichten Barockkirche ist so vielschichtig wie die Geschichte Siziliens und ihrer jüdischen Einwohner. Will man diese Untiefen erforschen, muss man vorsichtig sein: Kaum zwei Schritte in die Kirche gesetzt, öffnet der Guide auch schon eine quadratische Falltüre. Die hohen Steinstufen lassen einen dunklen Schlund erkennen, in den man mutig hinuntersteigen muss, um die lang verschollenen Kulturschätze zu entdecken. Auf dem gewundenen, steilen Weg bis zur ersten Höhlenebene sieht man gut erhaltene Fresken und steht dann plötzlich vor einem Schädel und gekreuzten Knochen und einer christlichen Grabstätte, die, durch drei Altarwände geschützt, gespenstische Malereien freigibt.

© Reinhard Engel

Die zweite Ebene offenbart ein komplexes Tunnelsystem, das sich kilometerweit unterhalb von Syrakus und deren Nachbarinsel Ortigia verzweigt, durch mehrere Kirchen und Wahrzeichen bis zum Meer erstreckt. Dieses steinerne Labyrinth, das ursprünglich von den Griechen als Wassersystem erbaut wurde, erwies sich vor 80 Jahren als lebensrettender Zufluchtsort: Mehr als zehntausend Bewohner der sizilianischen Insel fanden hier Sicherheit vor den Bomben der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Die italienischen Texte an den schützenden Wänden sowie die Zeichnungen von britischen Flugzeugen zeugen von den Schutzsuchenden in diesem nassfeuchten Untergrund-Bunker.

Dass im dritten und tiefsten Fundament der Kirche gleich drei runde Becken mit glasklarem Wasser zu sehen sind und zum Frösteln einladen, erschüttert einen bis ins Innerste: Man blickt in diese frische, grüne Quelle und kann sich lebendig vorstellen, wie vor etwa 550 Jahren junge Bräute vor ihrer jüdischen Hochzeit hier sieben Mal untertauchten, junge Mütter nach der Geburt oder fromme Frauen am siebten Tag nach ihrer Periode. „Erst 1977, nachdem man begonnen hatte die vielen Schichten unter der Kirche zu erforschen, wurden Tonnen von Gestein und Geröll entfernt, um an diese einzigartige Mikwa zu gelangen“, erklärt unser Guide. Denn die Kirche wurde eindeutig auf den Resten einer Synagoge – nach der Vertreibung der Juden 1492 – erbaut. Auf einer Kalkwand kann man in hebräischer Schrift den Namen Ascher erkennen, höchstwahrscheinlich der spendable Erbauer dieser Mikwa.

Die geschätzt 40.000 bis 50.000 Juden waren als Händler, Bankiers, Goldschmiede oder Ärzte tätig, lebten ihre Religion und Kultur – bis sie durch die spanischen Eroberer vor
die Wahl gestellt wurden: Taufe oder Tod.

Das mit zahlreichen historischen Zeugnissen an der südöstlichen Küste Siziliens gelegene Syrakus, von Siedlern aus Korinth 734 vor Christus gegründet, galt lange Zeit wirtschaftlich und kulturell als sehr einflussreiche Stadt: Dichter und Philosophen wie Aischylos, Platon und Archimedes lehrten hier. Nachdem die Römer die Stadt einige Jahrhunderte später erobert hatten, siedelten sich vermutlich auch die ersten jüdischen Händler in Syrakus an. Weitere Juden wurden nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n.C. als Sklaven dorthin verschleppt.

Bis zum Ende des Mittelalters entwickelten sich unter römischer, byzantinischer und arabischer Herrschaft nicht nur in Syrakus, sondern auch in Messina, Catania, Palermo, Noto oder Agrigento wichtige jüdische Gemeinden. Die geschätzt 40.000 bis 50.000 Juden waren als Händler, Bankiers, Goldschmiede oder Ärzte tätig, lebten ihre Religion und Kultur – bis sie durch die spanischen Eroberer vor die Wahl gestellt wurden: Taufe oder Tod. Ihre endgültige Vertreibung aus Sizilien erfolgte 1492 durch die spanische Inquisition. Insgesamt zwölf Synagogen gab es damals, rund 5.000 Juden lebten hier. Kurz vor der Vertreibung wollten sie die Mikwen erhalten und füllten diese selbst mit Schmutz und Schlamm an, damit sie nicht von den Christen missbräuchlich verwendet würden. Erhofften sie sich vielleicht sogar eine Rückkehr? Die Synagogen wurden zerstört oder zweckentfremdet, die Ritualbäder zugeschüttet oder einfach vergessen.

Die zweite Mikwa unter dem Hotel. So erging es über die Jahre auch der zweiten Mikwa auf Syrakus, die während der byzantinischen Zeit erbaut wurde. Aber vor etwa 25 Jahren kaufte die Italienerin Amalia Daniele einen alten Palazzo in der Via Giovanni Battista Alagona, um diesen zu einem Hotel umzubauen. Bei den umfangreichen Bauarbeiten wurde eine zugemauerte Tür entdeckt und deshalb die Wand eingerissen. Hier führte ein Gang in den Keller: Nachdem Steine und Schutt aus Jahrhunderten entfernt worden waren, kam ein enges und steiles Treppengewölbe zum Vorschein. Hier führen 50 Stufen 18 Meter hinunter in einen großen Raum mit drei Wasserbecken, gespeist aus einer nahe gelegenen Quelle. Für die Hotelbesitzerin war es keine Frage, dass dieser Ort der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden muss: Die Mikwa kann man jetzt unter dem Hotel Alla Giudecca besichtigen, auch ohne dort zu nächtigen.

In den Tiefen unter der Stadt Syrakus finden sich alte religiöse Relikte, die auf die bewegte Geschichte zwischen Toleranz und Verfolgung verweisen. © Reinhard Engel

Einige Konvertiten vollzogen hier bereits den endgültigen Eintritt in die jüdische Gemeinschaft – mit ihrem vollständigen Untertauchen in reines und fließendes Wasser. Denn vor einigen Jahren begann der gebürtige Sizilianer Rabbi Stefano Di Mauro, der über 50 Jahre in den USA gelebt hatte, mit dem Aufbau einer jüdischen Gemeinde. Im Januar 2013 versammelte sich eine kleine Schar von Betern in der Synagoge, um mit ihrem Rabbiner die EsterRolle zu lesen und Purim zu feiern – auch ein Fest als Zeichen des Überlebens. Heute ist Syrakus mit seinen 121.000 Einwohnern eine zwar lebendige, aber eher beschauliche Stadt, wenn sie nicht zu viele Touristen bevölkern.

Blasse Spuren in Palermo und Zwist in Catania. Bis zu ihrer Vertreibung hatten sich die Juden zu einer geschätzten Gruppe der sizilianischen Gesellschaft hochgearbeitet. Schon unter dem Stauferkaiser Friedrich II., der das Deutsche Reich während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts von Palermo aus regierte, gehörten jüdische Ärzte und Wissenschaftler neben arabischen Gelehrten zum Hofstaat des Kaisers. Mit der kulturellen und religiösen Toleranz ging es Ende des 15. Jahrhunderts zu Ende, als Sizilien von den Spaniern, zuerst vom Hause Aragon, dann von den Bourbonen, übernommen, regiert und verwaltet wurde. Die mörderische „Heilige Inquisition“ ließ sich für 150 Jahre in Palermo nieder, und bevor man die Juden, die es als Lehrer, Kaufleute und Handwerker zu Wohlstand gebracht hatten, hinaustrieb, wurde ihr gesamter Besitz von den Spaniern kassiert, die Sizilien mit dem Segen des ortsansässigen Adels bis Mitte des 19. Jahrhunderts plünderten.

Einem einzigen Mann ist es zu danken, dass man sich in jüngerer Zeit wieder an die einstigen jüdischen Nachbarn erinnert: Leoluca Orlando, 1947 in Palermo geboren, ist ein italienischer Jurist und Politiker, der durch seinen Kampf gegen die Mafia international bekannt wurde und deshalb seit Jahrzehnten unter permanentem Personenschutz lebt. Er war Repräsentant im sizilianischen und italienischen Abgeordnetenhaus sowie im europäischen Parlament. Von 1985 bis 2000 und erneut von 2012 bis 2022 war Leoluca Orlando Bürgermeister von Palermo; zu den Wahlen im Juni 2022 trat der heute 77-Jährige nicht mehr an. Während seiner ersten beiden Amtszeiten als Bürgermeister von Palermo ordnete er an, den Spuren der ehemaligen jüdischen Bewohner der Stadt nachzuforschen. Als Folge und zum Zeichen des Erinnerns wurden zahlreiche Straßen, Gässchen und Plätze im Stadtzentrum mit dreisprachigen Straßenschildern ausgestattet: Die Namen sind dort auf Italienisch, Hebräisch und Arabisch zu lesen. Jüdische Spuren besserer Zeiten finden sich nur noch in Taormina: Zwei umrundete Davidsterne zieren das frühere Rathaus.

Geschichte im Keller: Wer sich Stockwerk um Stockwerk hinunterbegibt, entdeckt historische Details von einiger Faszination, die auch erschrecken. © Reinhard Engel

Anders sieht es in Catania aus, der Hafenstadt an der Ostküste, am südlichen Fuße des größten und aktivsten Vulkans in Europa. Wie die deutsche Wochenzeitung Jüdische Allgemeine im September 2023 berichtete, herrscht anhaltende Sorge bei Italiens jüdischer Dachorganisation Unione delle Comunità Ebraiche Italiane (UCEI): Eine neu gegründete Gemeinde behauptet, ihre Mitglieder seien die rechtmäßigen Nachfahren der sogenannten Bnei Anusim, jener Gruppe von Juden, denen es gelang, während der Inquisition unterzutauchen und so ihre Jüdischkeit im Geheimen zu bewahren. Doch gemäß der Halacha* reicht ein solcher Anspruch allein nicht aus; daher machen die etwa 40 Mitglieder ihre orthodoxen Konversionen geltend, durchgeführt von Rabbinern in den USA und in Israel. Rechtsanwalt Benito Triolo, Vorsitzender der Gruppe, gibt an, in Miami konvertiert zu sein, und nennt sich seitdem Baruch.

Die Stadtverwaltung von Catania überließ der Gemeinde ein Stockwerk des Schlosses Leucatia zur Nutzung als Synagoge. Dieses Anwesen hatte ein jüdischer Kaufmann 1911 für die Hochzeit seiner Tochter erbauen lassen, im Zweiten Weltkrieg diente es als Luftabwehrbasis der Nazis. Die „Gemeinde“ hat eine Tora-Rolle als Geschenk von der Synagoge Ohev Sholom in Washington bekommen. Darüber hinaus konnte man den brasilianischen Rabbiner Gilberto Ventura als Mitarbeiter gewinnen. Was ihnen jedoch fehlt, ist die Anerkennung durch die jüdische Dachorganisation UCEI, die über die Gruppe sehr verärgert ist. Rechtsanwalt Triolo lässt durchblicken, dass seine Gemeinde auch als Angebot für Juden und Touristen aus den USA und Israel verstanden werden könne. Dabei bezieht er sich offenbar darauf, dass wöchentliche Charterflüge die Stadt am Vulkan Ätna in nur zweieinhalb Stunden mit Israel verbinden. Der Streit um die Anerkennung geht weiter. Vielleicht ist das auch ein Zeichen dafür, dass es sich doch um jüdische Nachfahren handelt.

* Halacha: Die Halacha ist das jüdische Religionsrecht. Dieses besteht aus den 613 Geboten der Tora, deren Auslegung im Talmud und der Tradition. Jüdisch ist laut Halacha, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist.

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