Hans Morgenstern hat es nicht mehr erlebt. Viele Jahre kämpfte er für den Erhalt und die Renovierung „seiner Synagoge“. Vor einigen Monaten ist der letzte Jude von St. Pölten in seiner Heimatstadt verstorben.

In der Stadt ohne Juden wurde nun mitten in den Pessach-Tagen das Jugendstil-Juwel nach zweijähriger Sanierung feierlich wiedereröffnet.

Kaum mehr als ein Jahr hatte die ursprüngliche Bauzeit betragen. Geplant von den Architekten Theodor Schreier und Viktor Postelberg und finanziert durch private Spenden konnte das prachtvolle Gotteshaus im Sommer 1913 eingeweiht werden. Nur ein Vierteljahrhundert lang durfte sich die vormals blühende St. Pöltner jüdische Gemeinde, die zuletzt nur noch 577 Mitglieder zählte, an ihrem Tempel erfreuen. Im Novemberpogrom 1938 devastiert und geschändet, im Krieg durch Bomben beschädigt, Ende der 1970er-Jahre fast abgerissen, wurde 1980 die erste Renovierung des inzwischen unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes veranlasst. 1954 hatte die IKG die „arisierte“ Immobilie nach einem langen Rechtsstreit zurückbekommen, konnte sich aber die Erhaltung des verfallenden Gebäudes, das nie mehr als Synagoge dienen würde, nicht leisten.

Martha Keil: Kreative Kuratorin, visionäre Wissenschaftlerin und guter Geist des Hauses

Die treibende Kraft: Martha Keil. Bereits seit 1988 hat das Institut für Jüdische Geschichte Österreichs (INJOEST) seinen Sitz im ehemaligen Kantorhaus der Synagoge. Martha Keil, Direktorin und seit 2004 wissenschaftliche Leiterin des Instituts, war maßgeblich am Nutzungskonzept des Gebäudes beteiligt und stand als treibende Kraft, guter Geist und Kuratorin nun auch hinter der aktuellen sensiblen Erneuerung des einstigen Sakralbaus, die dessen besondere Geschichte sichtbar machen sollte. Einem Jahr im Kibbuz als Jugendliche verdankt die Historikerin ihre erste Begegnung mit dem Judentum und ihre Kenntnis der hebräischen Sprache. Sie studierte dann in Wien Geschichte und Judaistik und widmete ihr gesamtes Berufsleben der jüdischen Geschichte Österreichs.

ehemalige-synagoge.at

Nur Veranstaltungen, die „mit der Geschichte und der Würde des Hauses in Einklang stehen“, sollten in diesem stattfinden dürfen, so lautete Martha Keils Prämisse bereits nach der ersten Renovierung. Bald wurde der „akademischen Hausmeisterin“, als die sie sich damals sah, aber klar, dass der Bau eine neuerliche Sanierung benötigte, wofür sich die einmalige Gelegenheit anlässlich der Bewerbung St. Pöltens als Kulturhauptstadt 2024 bot. Obwohl bekanntlich Bad Ischl den Zuschlag erhielt, blieben Stadt und Land „in seltener Einmütigkeit“, wie Keil betont, beim geplanten Vorhaben, die Synagoge als öffentlich zugängliches Kulturzentrum umfassend zu adaptieren. Ein „Bestandsvertrag“ wurde mit der IKG geschlossen, die nun aller Verpflichtungen enthoben ist, aber grundbücherlich Eigentümerin des Gebäudes bleibt. Eine Nutzung „im Sinne der Geschichte“ war dafür die Voraussetzung. Die Kosten in der Höhe von rund 4,6 Millionen Euro teilten sich Nationalfonds, die Stadt St. Pölten, das Land Niederösterreich und das Bundesdenkmalamt.

Vielseitige Gedenk- und Vermittlungsstätte. „Es ist kein Museum, weil es keine Sammlungen hat, aber es bietet eine Dauerpräsentation und Wechselausstellungen“, beschreibt Keil den „hybriden Kulturbetrieb“, der sich als Gedenk- und Vermittlungsstätte Ehemalige Synagoge St. Pölten nennt. Was darin stattfinden kann, muss damit abgestimmt werden. „Es ist eben ein ganz besonderer Raum, für den es kein eindeutiges Label gibt“, so Keil.

„Es ist ein ganz besonderer Raum ohne eindeutiges Label.“
Martha Keil

Die technische Ausstattung ist jetzt auf der Höhe der Zeit, der barrierefreie Zugang ganz diskret und die absichtlich irritierende Lichtskulptur des Architekten Johann Moser in ihrer Vieldeutigkeit offenbar gelungen. Fast 3.000 Besucher:innen am Eröffnungswochenende waren davon durchwegs angetan.

Zurückkommend auf die Geschichte, kann man die Frage stellen, weshalb sich eine vergleichsweise kleine jüdische Gemeinde von nicht einmal 1.000 Mitgliedern einen so großen Tempel leisten konnte und wollte.

„Reich war die Gemeinde gar nicht, aber der langjährige Gemeindevorstand Albert Leicht hat monarchieweit richtig gut Fundraising betrieben, z. B. wurde ein Gebetbuch mit goldenem Aufdruck an die Spender vergeben. Man war hier gar nicht besonders orthodox, aber sehr selbstbewusst jüdisch, und hat gedacht, da bleibt man jetzt, und auch die Stadt empfand das Gebäude als eine Zierde“, erklärt Keil.

Unwiederbringlich. In verschiedenen Stationen wird nun der 321 Shoah-Opfer der Stadt gedacht, in einem virtuellen Memorbuch mit biografischen Einträgen ebenso wie mit symbolischen „Jahrzeitlichtern“.

Aus der Dauerausstellung Die Juden und ihre Gemeinde.

Die Präsentation endet mit dem Verweis auf die Nachkommen, mit denen man in gutem Kontakt steht und die St. Pölten regelmäßig besuchen. Für das geplante Treffen im September gibt es bereits 80 Anmeldungen von Nachfahren aus aller Welt. „Sie interessieren sich insbesondere für das jüdische Leben in St. Pölten vor der Shoah, das ja auch gut war“.

Der letzte Gemeinderabbiner war Manfred Papo, ein Sepharde aus Sarajewo, an dessen würdevolle Erscheinung ich mich sehr gut erinnere, denn er war im Gymnasium mein Religionslehrer. Aus Papos Nachlass stammt auch das einzige Foto der Synagoge vor 1938, das seine Witwe Centropa übergeben hatte und das Keil zu ihrer Freude entdecken konnte.

Die wenigen erhaltenen Objekte aus der vernichteten Gemeinde zeigt die Dauerausstellung auf der Frauenempore. Sie mit diversen Judaica oder didaktischen Elementen zum Judentum „aufzufüllen“, erschien Keil nicht passend.

Ab 17. Mai dokumentiert die Schau Dinge bewegen, wie aus Alltagsgegenständen Symbole der Erinnerung werden. Jewish Weekends als hochkarätiges Festival für jüdische Kultur abseits von Klischees sollen nicht nur diesen Juni, sondern fortan alljährlich stattfinden. Bis 10. November wird es weitere Events und Vermittlungsprogramme für Schulen geben, danach bleibt das unheizbare Gebäude bis zum April saisonal geschlossen.

„Wir sind hier Nutznießer eines Verbrechens“, stellte Martha Keil in ihrer Eröffnungsrede fest und erklärt dazu: „Ja, mir ist sehr wichtig, das zu betonen, denn natürlich schmückt sich die Politik etc. mit so einem so schönen Haus, zurecht sind alle stolz und glücklich. Aber wir müssen uns doch immer vor Augen halten, wer eigentlich hierher gehört und warum diese Menschen nicht mehr hier sind. Diese Gemeinde ist unersetzbar, diese Geschichte unwiederbringlich verloren. Aber wir können sie erzählen und weitergeben.“

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