Sommerloch

Die Urlaubsaison steht bevor, die Ferien rufen. Es zieht uns aufs Land, in den Wald und auf die Wiesen, in Richtung der Seen und ans Meer. Erholung ist Wunsch und steht auf dem Programm.

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Die Politik scheint obligat Pause zu machen; das fragwürdig symptomatische Nichtwahr-haben-Wollen von zukunftsnotwendigen Renaturalisierungsentscheidungen und die Krisen- und Kriegsmeldungen aus aller Welt dröhnen bereits als Realitätssplitter an uns vorbei, werden als mediale Blindgänger unmittelbar hinter unserer Wahrnehmungsschwelle abgeworfen. Two situations: hier der Sommeralltag, das Feiern des Lebens, das dem Genuss Frönen – und dort draußen, irgendwo in einer imaginierten Ferne, menschengemachte Zerstörung auf allen Ebenen.

Endlich Sauregurkenzeit und Friede-Freude-Eierkuchen bzw. Stangeneis statt Dauerausweglosigkeit, Panik, Leid und Trauer. Zunehmend wird offensichtlicher, dass unsere mentale Architektur einfach nicht für die tagtägliche medieninduzierte Überforderung ausgelegt ist; Unruhe, Depression und Burnout angesichts der Chaos-Welt, wohin man auch schaut. Unsere Wahrnehmung von komplexen Ereignissen (die ambivalenten, nicht verifizierbaren Fragmente von unfassbaren Geschehnissen) und unsere Gedanken, Wertvorstellungen, Gefühle: Da will sich einfach partout keine innere Konsistenz mehr einstellen. Wir verlieren uns zunehmen in kognitiven Sackgassen.

Wir müssen lernen […], unsere Verletzlichkeit
und unsere Sterblichkeit zu achten
und zu respektieren,
in uns selbst und in anderen.“

(Thomas Metzinger)

Es ist offensichtlich, dass das so genannte Sommerloch wohl eher erschreckend klafft, denn von tatsächlicher Ereignislosigkeit geprägt ist. Die Fronten verhärten sich auch weiterhin, innenpolitisch wie global. Kampfhandlungen gegen Mensch und Natur werden fortgeführt, die dauerhaften Krisenzustände sind nicht weniger virulent. Die unbarmherzige Dummheit und Brutalität unserer Gattung, so gar nicht auf die Menschheit als Ganze und das Wohlergehen – auch zukünftiger Generationen – ausgerichtet, prägt die Normalität des Wahnsinns. Was für eine Respektlosigkeit dem Leben gegenüber. Eine Freundin aus der Ukraine erzählte neulich bei einem Picknick, dass die Plötzlichkeit der Invasion das Erschreckende an der gegenwärtigen Situation immer noch durchsetzt. 200.000 Soldaten an der Grenze seien es damals gewesen, im Februar 2022, vor Beginn des russischen Angriffskriegs – und alle hätten sie sich in der Ukraine damals immer noch in Sicherheit gewähnt. Am gleichen Abend erzählt eine Freundin aus Myanmar, dass sie und ihre Familie und Freund:innen einen Militärputsch vor dem Februar 2021 nicht für möglich gehalten hätten. Jetzt prägten gezielte wie willkürliche Ein- und Ausreiseverbote, Stromausfälle, Internetzensur, Verschleppungen und Bombardierungen den Alltag. Die Unvermitteltheit veränderter Lebensbedingungen schildern auch zwei weitere Freundinnen, die eine musste mit ihrer Familie aus dem Sudan fliehen, die andere hatte sich vor dem 7. Oktober in einem Kibbuz der Permakultur gewidmet. Was alle drei Frauen verbindet, sind Offenheit und Lebendigkeit, große mentale Stärke, Reflexionsvermögen und Klarheit – trotz Unsicherheit und Angst angesichts ihrer fundamental veränderten Lebensumstände.

Das sich allmählich Zuspitzende der Situation und der Moment des Unumkehrbaren, ab dem die (vermeintlich) lineare Entwicklung abbricht, die Richtung wechselt, unkontrollierbar wird, sich radikal verändert: Es schreibt sich nicht nur in die Kriegsszenarien ein, es kommt auch in Bezug auf die Klimakatastrophe zu tragen.

Können wir das Verharren im Altbekannten, in mutmaßlicher Sicherheit, das Schönreden und das Gefühl, unangreifbar zu sein, angesichts von drohenden Kipppunkten, durch schonungslose Ehrlichkeit uns selbst gegenüber noch rechtzeitig überwinden und Handlungsfähigkeit gewinnen, die von Respekt gegenüber allem Leben geleitet ist?

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