Wollen sie zurück? Können sie bleiben?

Weder im Süden noch im Norden fühlen sich Israelis sicher – für viele galt Tel Aviv bislang als eine Oase, wo sie bei Familie, Freunden und in Hotels Zuflucht finden. Das ist nun vorbei.

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Tel Aviv galt bislang als Zufluchtsort für Israelis, die sich im Norden und Süden des Landes nicht mehr sicher fühlten. © Oded Balilty / AP / picturedesk.com

Immer, wenn man gerade denkt, dass möglicherweise ein Kipppunkt erreicht worden ist und auf eine Hinwendung zu allmählich wieder besseren Zeiten hofft, wird man eines anderen belehrt. Jetzt gibt es eine weitere Kriegsfront – den Jemen. Es ist zwar nicht völlig neu, dass von dort auf Israel geschossen wird, aber bisher war davon „nur“ Eilat betroffen gewesen. Für die Tel Aviver war das seltsame Surren, gefolgt von einem lauten Knall, neu. Vor allem auch, weil es keinen Alarm gab, weil das Flugobjekt falsch eingeordnet wurde. So aber konnte es die von weither angereiste Angriffsdrohne bis in meine Straße schaffen und explodierte hundert Meter von unserem Haus entfernt.

Die Huthis feierten es natürlich als Erfolg, dass es ihnen gelungen war, das Herz von Tel Aviv zu treffen. Die monotone Jubelrede des uniformierten Milizensprechers wurde auch hier im Fernsehen übertragen und erinnerte die Zuschauer an die Satiresendung Eretz Nehederet. Dort waren die Huthis schon öfters – fast ganz genauso – parodiert worden. Aber diesmal war niemandem wirklich zum Lachen. Der Sprengsatz landete zum Glück mitten auf der Straße. Wenn ich einkaufen gehe, schaue ich jetzt auf der einen Seite zu den kaputten Scheiben hoch, die vor allem Bürofenster sind. Im Wohnhaus gegenüber aber wurde ein Nachbar von den Splittern tödlich verletzt.

Tel Aviv ist Premiumzielscheibe und Zufluchtsort. Statt Touristen wohnen hier in den Hotels Evakuierte, die sich jetzt auch hier nicht mehr sicher fühlen können Asaf Zohar macht sich vor allem um die gestrandeten Teenager Sorgen. Ihnen versucht er seit Monaten zu helfen. Der 25-jährige Surflehrer hatte es sich gerade in Australien eingerichtet, als ihn der 7. Oktober zurückholte. Drei seiner Freunde waren auf der Rave Party ermordet worden, er sorgte sich um seine Eltern und Geschwister. Wegbleiben war keine Option mehr für ihn. Jetzt studiert er Hydrotherapie, etwas Heilendes, und geht abends in die Hotels, um mit den Jugendlichen zu reden und zu spielen. Einige Extremfälle, erzählt er, gingen gar nicht mehr aus ihrem Zimmer, sie schauten lieber den ganzen Tag auf Telegram gestreamte unzensierte Bilder von den Explosionen der Hisbollah-Raketen, die inzwischen ganze Ortschaften zerstört haben. Manche Familien sind gerade wieder auf eigene Faust in ihre Kibbuzzim in den Norden zurückgekehrt, zumindest jene, die noch intakt sind. Sie finden es erträglicher, dort den Alltag in der Nähe von Schutzräumen zu verbringen, als weiterhin in Ungewissheit in Gästezimmern auszuharren.

Alle Komponenten eines
Traumas seien somit gegeben:
der Verlust von persönlicher Sicherheit und das Versagen jener, die einen schützen sollten.

Im Süden, an der Grenze zu Gaza, wird unterdessen wieder aufgebaut. Volontäre können beim Aufräumen und Vorbereiten des Neuanfangs helfen, bei freier Unterkunft und Verpflegung. Kfar Aza ist einer dieser Orte. Unter den 350 Einwohnern gab es 64 Ermordete, fünf Geiseln. Die Überlebenden hatten bis zu 28 Stunden in Todesangst in Schutzräumen verbracht, von dort brachte man sie dann – die meisten im Schlafanzug – in den Kibbutz Shfayim, 20 Autominuten nördlich von Tel Aviv. „Hatten wir da verstanden, was passiert war? Nein“, sagt die pensionierte Lehrerin Chagit Yekuel, die sie empfangen hat. „Erst haben sie gar nicht geredet, später erfuhren wir ihre Geschichten aus den Medieninterviews.“

Auf einem Parkplatzgelände wurden inzwischen Wohncontainer für die Familien aufgestellt. Es gibt auch ein eigenes kleines Café, die Kellner tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Kfar Aza“.

Die Atmosphäre aber erinnert eher an einen Wartesaal. Wollen sie zurück? Die Älteren sagen ja, die Jüngeren zögern. „Wer kann mir versprechen, dass es dort in Zukunft Sicherheit für meine Kinder geben wird?“, fragt Ofek Chamias, 23. „Sie haben meine Freunde verbrannt, meinen Vater ermordet. Man hört, dass es weiterhin Eindringlinge gibt. Die Bedrohung ist nicht vorbei. Hamas, Hisbollah, Iran: Alle versuchen, uns zu schwächen.“ Eine richtige Grenzzone zu Gaza müsste es geben, sodass sich ihr niemand nähern möchte. „Aber wenn wir sowas bauen, dann sagt die Welt doch gleich wieder, dass das nicht geht.“

Die Diskrepanz zu draußen ist groß und nur schwer zu vermitteln Amir Mandel arbeitet seit 35 Jahren als Psychiater. Seine Praxis wird gerade überrannt. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Patienten melden sich bei ihm. Noch nie hat er erlebt, dass sich ein Ereignis so einschneidend auf die mentale Gesundheit ausgewirkt hat, auch bei jenen, die nicht unmittelbar betroffen seien. Die Menschen brechen aus Hoffnungslosigkeit zusammen. Dann sagt Mandel, was viele in seinem Alter denken: wie gut es sei, dass die eigenen Eltern das nicht mehr mit erleben müssen. Sein Vater, ein Auschwitz-Überlebender, der danach viel in seinem Leben herumgekommen war, habe sich letztlich immer nur in Israel sicher gefühlt. Das zionistische Narrativ der Fähigkeit zum Selbstschutz sei am 7. Oktober nachhaltig beschädigt worden. „Diese Hilflosigkeit geht gegen unsere kollektive Identität.“ Alle Komponenten eines Traumas seien somit gegeben: der Verlust von persönlicher Sicherheit und das Versagen jener, die einen schützen sollten. Vom Posttrauma der Soldaten und der vielen Verwundeten unter ihnen will Mandel gar nicht erst reden.

So aber konnte es die von weit her angereiste Angriffsdrohne bis in meine Strasse schaffen und explodierte hundert Meter von unserem Haus entfernt.

Andere, die es sich leisten können, suchen nach einer Bleibe im Ausland. Ein „Zuhause in Zypern“ verspricht eine brandneue Werbung an der viel befahrenen Rokach-Straße. Eine Ferienwohnung auf der nahen EU-Insel war schon vor dem Krieg attraktiv. Aber gerade zeichne sich eine regelrechte Welle ab, sagt Brian Osborne, der seit drei Jahren für eine zypriotische Baufirma regelmäßig nach Israel kommt und hier im Kunden wirbt. Vor allem nach dem Angriff aus dem Iran sei man bei ihm Sturm gelaufen.

Für Avi Shilon ist Israel der einzige Ort, an dem er jetzt sein möchte. Der Historiker hat das Gefühl, Geschichte in Echtzeit mitzuerleben, auch wenn er das, was gerade geschieht, für einen absoluten Tiefpunkt hält. Normalerweise wäre er zu dieser Zeit im Norden, um dort am Tel Hai College zu lehren. Nun sitzt er in Tel Aviv und unterrichtet per Zoom. Seine Expertise ist die Entwicklung der Rechten. Er hat ein Buch über Menachem Begin verfasst und kann sich gut in das konservativtraditionelle Lager hineinversetzen, wo man Politiker gerne als naive Schwächlinge beschimpft, die auf die Grenzen militärischer Stärke verweisen.

Nach dem Schock vom 7. Oktober war Shilon eine Zeit lang sogar optimistisch gewesen, dass man sich jetzt, nach all der inneren Spaltung und Polarisierung wegen des Justizumbaus, zusammenraufen würde. „Alle packten mit an, es gab ein Gefühl der gemeinsamen Stärke, und ich hatte gedacht, in ein paar Monaten werden wir die Hamas kleinbekommen haben, dann haben wir einen Feind besiegt, und die Welt ist mit uns.“ Doch es kam anders. Trotzdem bleibt er zuversichtlich, dass die Dinge sich bald ändern, zumindest in Israel selbst.

Spätestens in einem Jahr werde es Neuwahlen geben, glaubt er, und danach eine Regierung, breit aufgestellt und konsensfähig, der eine Mehrheit wieder vertraut und die wieder Zukunftsperspektiven eröffnet.

Ein Beweis dafür, dass er es mit seinem Optimismus ernst meint? Avi und seine Frau haben gerade ein drittes Kind auf den Weg gebracht.

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